Arbeit – Wohnheim – Bahnhof

Die Arbeiterwohlfahrt als Anlaufstelle für türkischsprachige Gastarbeiter

Politisch bedeutsam war, dass diese Funktionseliten in den allermeisten Fällen laizistisch orientiert waren und sich als Kemalisten verstanden. Die kemalistischen Prinzipien galten zur Zeit der Anwerbevereinbarungen als unumstößlich und unveränderbar. Deshalb spielten in den ersten Jahren des Aufenthaltes Fragen der islamischen Religion und wie sie im Alltag gelebt werden könnte nur eine geringe offizielle Rolle. Allerdings gab es natürlich unter den angeworbenen Arbeitnehmern auch religiöse Menschen, für die die Einhaltung religiöser Vorschriften wie Fasten-, Gebets- und Speisevorschriften durchaus ein Problem war.

 

Die Freizeitheime der AWO waren an vielen Orten erste Keimzellen der kulturellen Bildung der angeworbenen Arbeitnehmer. Obligatorisch war die Durchführung von Deutschkursen. Bereits 1967 wurden Lehrfilme wie „Guten Tag Deutschland“, die vom Goethe-Institut entwickelt worden waren, in den AWO-Deutschkursen eingesetzt.

 

Von den traditionellen Kunstformen war es anfangs besonders die Musik, die für die Freizeitgestaltung wichtig war. Unter den Sozialberatern der AWO gab es selbstverständlich auch begabte Musiker, die in den Freizeitheimen kleine Konzerte angeboten haben. Ein AWO-Sozialberater, der musikalisch ausgebildet war, hat bis in die 1990er Jahre in den interkulturellen Zentren, zu denen sich die Freizeitheime im Laufe der Zeit entwickelt hatten, dort Folklorekurse angeboten und durchgeführt.

 

Und natürlich gab es auch unter den angeworbenen Arbeitnehmern begabte Musiker, die schon sehr bald mit traditionellen Musikformen einen Beitrag zur künstlerischen Verarbeitung der Lebenslage in der Fremde (gurbet) leisteten. Als einer der ersten wurde Metin Türköz bekannt, der bei Ford in Köln arbeitete. Prägnant beschreibt er in „Fremde Heimat. Eine Geschichte der Einwanderung“, wie er zum Sänger der Fremde wurde: „Am Anfang hatten unsere Leute doch gar nichts, woran sie sich festhalten konnten. Es gab kein Radio, keine Tonbänder, keine Kassetten. Jeder sehnte sich nach Musik. Nun, ich konnte ein bisschen Bağlama (Langhalslaute) spielen. So floss alles, was wir erlebten, Schönes wie Bitteres, in die Saiten der Saz und in unsere Lieder.“

 

Auch der Film war schon früh in der türkischen Einwanderungsgeschichte ein wichtiges Medium, das bedeutsam war für die Verarbeitung der Migrationserfahrung. Bilder und Geschichten aus der Heimat linderten ein wenig das Heimweh. Türkische Filme gab es in deutschen Kinos nicht. Erste Anfänge eines selbst organisierten Filmangebots gab es Ende der 1960er Jahre. Oftmals wurden Kinos am Wochenende angemietet. Meistens wurden die seinerzeit sehr populären Yesilcam-Filme gezeigt. Das vermutlich erste Kino mit einem ausschließlich türkischen Filmangebot wurde dann 1971 in Berlin eröffnet – das Sinema Kent. Das kommunale Kino Cinema Ostertor in Bremen hat ab 1978 in Kooperation mit der Arbeiterwohlfahrt türkische Filme in Bürgerhäusern gezeigt.

 

Mit dem Aufkommen der Videokassetten zu Beginn der 1980er begann eine neue Phase der Rezeption türkischer Filme. Gemeinsame Videoabende wurden familiäre Events.

 

Aus der Gastarbeiterkultur, dem Mitgebrachten in der Fremde, entwickelte sich die Interkultur der Migranten. Derzeit gibt es eine zunehmende Zahl von Künstlerinnen und Künstlern aller Kunstformen, die in einer familiären Migrationsgeschichte sozialisiert wurden und künstlerische Ausdrucksformen für das Leben in einer Einwanderungsgesellschaft finden. Ob postmigrantisch die passende Kennzeichnung für diese Phase ist, wird sich zeigen.

 

Schaut man auf diese geschichtliche Entwicklung aus der gegenwärtigen Perspektive der Pandemie, so lässt sich diese so bündeln. „Und weil der Mensch ein Mensch ist“ so Bertolt Brecht, benötigt er Kultur als geistige Nahrung, um auch ein Mensch sein zu können. Oder ganz schlicht – Kultur ist systemrelevant.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 5/2021.

Wolfgang Barth
Wolfgang Barth war bis 2020 verantwortlich für das Thema Migration beim AWO Bundesverband.
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