Wolfgang Barth - 29. April 2021 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Arbeiterkultur

Arbeit – Wohnheim – Bahnhof


Die Arbeiterwohlfahrt als Anlaufstelle für türkischsprachige Gastarbeiter

Nur wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat die Bundesrepublik Anwerbevereinbarungen mit verschiedenen Ländern rund um das Mittelmeer abgeschlossen. Vereinbarungen wurden mit Italien (1955), mit Spanien und Griechenland (1960), mit der Republik Türkei (1961), mit Marokko (1963), mit Portugal (1964), mit Tunesien (1965) und mit der Republik Jugoslawien (1968) abgeschlossen.

 

Damit begann die Phase der sogenannten Gastarbeitereinwanderung, die einen nicht unerheblichen Beitrag zum gesellschaftlichen Wandel in der Bundesrepublik beigetragen hat.

 

Jede dieser Vereinbarungen hat zu einer eigenen Einwanderungsgeschichte der unterschiedlichen Communities geführt. Zu Beginn der Anwerbung wurde sehr schnell deutlich, dass die Kommunikation zwischen den angeworbenen Arbeitnehmern, den Arbeitgebern, den Arbeitskollegen und der deutschen Nachkriegsgesellschaft nicht von alleine reibungslos verlaufen würde.

 

Die damalige Bundesregierung hat deshalb zu Beginn der 1960er Jahre die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege gebeten, einen Beitrag zur Betreuung und Beratung der angeworbenen Arbeitnehmer zu leisten. Die Arbeiterwohlfahrt, die Caritas und das Diakonische Werk haben sich entschieden, diesen Beitrag zu leisten. Die Arbeiterwohlfahrt übernahm die Zuständigkeit für türkische Staatsangehörige. Zu diesem Zeitpunkt konnte niemand wissen, dass die Migration aus der Türkei einmal die größte Einwanderungsgruppe ausmachen würde. Die Beratung durch die drei Verbände wurde nach dem Prinzip „Landsleute beraten Landsleute“ organisiert. Die leitende Idee war dabei die Sicherstellung der sprachlichen Verständigung.

 

Die Arbeiterwohlfahrt hat bereits im Jahr 1962 die ersten beiden Beratungsstellen für türkische Arbeitnehmer in Köln und in Stuttgart eingerichtet. Im Jahr 1965 gab es bereits in 20 Städten derartige Beratungsstellen.

 

Die Beratungsleistung bezog sich hauptsächlich auf Probleme am Arbeitsplatz und mit Arbeitsverträgen, Regulierungen nach Arbeitsunfällen, Fragen der Kranken- und Rentenversicherung und natürlich Probleme nach Arbeitsplatzkündigungen. Mit dem Arbeitsplatz war in der Anfangszeit der Anwerbung auch ein Platz in einem Wohnheim verbunden. In den frühem 1960er Jahren lebten die meisten „Gastarbeiter“ in Wohnheimen.

 

„Heim-Arbeit-Heim-Arbeit“ ist eine äußerst häufig zu lesende Zusammenfassung über das damalige Leben, die sich vielfach in den ersten literarischen Arbeiten von damaligen „Gastarbeitern“ findet. Lebenszeit gab es lediglich in zwei Varianten – als Arbeitszeit und als arbeitsfreie Zeit.

In Politik und Gesellschaft wurde die Freizeit der „lediggehenden“ – wie es damals hieß – jungen Männer zunehmend als Problem wahrgenommen und debattiert. Es herrschte Unverständnis und auch Ärger darüber, dass die Freizeitgestaltung darin zu bestehen schien, sich am Bahnhof zu treffen. Für diese Treffen am Bahnhof gab es einfache Gründe: Einmal waren es für viele Menschen die Ankunftsorte und damit auch häufig so etwas wie ein symbolischer Fixpunkt des Ankommens und des möglichen Weggehens. Zudem konnte man häufig nur an Bahnhöfen Zeitungen aus den Herkunftsländern bekommen und dies war damals die einzige Möglichkeit, Nachrichten aus der Heimat abseits von privaten Briefen zu erhalten.

 

Aufgrund des Wissens der Beraterinnen über den Alltag und die kulturellen Handlungsmuster der türkeistämmigen Arbeitnehmer hat die Arbeiterwohlfahrt sehr früh erkannt, dass die eigentlichen Orientierungsprobleme der angeworbenen Arbeitnehmer in der arbeitsfreien Zeit entstanden sind. Die berühmte Formel von Max Frisch ist die treffende Beschreibung der 1960er Jahre, nach der „man Arbeitskräfte gerufen hat und Menschen gekommen sind“.

 

Der damalige zuständige AWO-Referent Richard Haar hat in seinem Beitrag für die Bundeskonferenz 1965 die Situation so beschrieben: „Neben den Beratungsstellen (sind) … auch Freizeitheime für türkische Arbeiter geschaffen worden.“ In dem Beitrag werden 13 Städte erwähnt, in denen derartige Freizeitheime der AWO eingerichtet wurden. Als Ziel dieser Freizeitheime formuliert der Beitrag: „Diese Heime sollen Treffpunkt der Arbeiter außerhalb der Betriebe und Betriebsunterkünfte sein. Von hier aus werden Veranstaltungen aller Art angeregt und durchgeführt. Theatergruppen, Musikgruppen, Sportgruppen der türkischen Arbeiter haben zum Teil in diesen Freizeitheimen ihren Sammelpunkt.“ Einige dieser Freizeitheime orientierten sich methodisch an der Bewegung der sogenannten Volkshäuser (halk eviler), die in der Türkei einen Beitrag zur demokratischen Volksbildung leisten sollten. In den ersten Jahren der Anwerbung haben sich Funktionseliten in der jeweiligen Einwanderungscommunity herausgebildet. Bei den türkeistämmigen Migrantinnen waren es insbesondere:

 

  • die Lehrerinnen, die seit 1964 muttersprachlichen Unterricht durchgeführt haben;
  • Betriebsräte und Gewerkschafts-sekretäre;
  • Sozialberaterinnen der Arbeiterwohlfahrt.

 

In den frühen politischen Gremien, die später zu Ausländerbeiräten oder ähnlichen Partizipationsformen wurden, haben diese Funktionseliten vielfach die Interessen und Wünsche der „Landsleute“ in der deutschen Öffentlichkeit auf der kommunalen Ebene vertreten. Die in den Betrieben eingesetzten Dolmetscher gehörten übrigens nicht zu diesen „Sprecherinnen der Landsleute“, weil die Arbeiter im betrieblichen Alltag häufig schlechte Erfahrungen gemacht hatten. Das galt auch für die Mehrheit der Leiter von Wohnheimen.

Politisch bedeutsam war, dass diese Funktionseliten in den allermeisten Fällen laizistisch orientiert waren und sich als Kemalisten verstanden. Die kemalistischen Prinzipien galten zur Zeit der Anwerbevereinbarungen als unumstößlich und unveränderbar. Deshalb spielten in den ersten Jahren des Aufenthaltes Fragen der islamischen Religion und wie sie im Alltag gelebt werden könnte nur eine geringe offizielle Rolle. Allerdings gab es natürlich unter den angeworbenen Arbeitnehmern auch religiöse Menschen, für die die Einhaltung religiöser Vorschriften wie Fasten-, Gebets- und Speisevorschriften durchaus ein Problem war.

 

Die Freizeitheime der AWO waren an vielen Orten erste Keimzellen der kulturellen Bildung der angeworbenen Arbeitnehmer. Obligatorisch war die Durchführung von Deutschkursen. Bereits 1967 wurden Lehrfilme wie „Guten Tag Deutschland“, die vom Goethe-Institut entwickelt worden waren, in den AWO-Deutschkursen eingesetzt.

 

Von den traditionellen Kunstformen war es anfangs besonders die Musik, die für die Freizeitgestaltung wichtig war. Unter den Sozialberatern der AWO gab es selbstverständlich auch begabte Musiker, die in den Freizeitheimen kleine Konzerte angeboten haben. Ein AWO-Sozialberater, der musikalisch ausgebildet war, hat bis in die 1990er Jahre in den interkulturellen Zentren, zu denen sich die Freizeitheime im Laufe der Zeit entwickelt hatten, dort Folklorekurse angeboten und durchgeführt.

 

Und natürlich gab es auch unter den angeworbenen Arbeitnehmern begabte Musiker, die schon sehr bald mit traditionellen Musikformen einen Beitrag zur künstlerischen Verarbeitung der Lebenslage in der Fremde (gurbet) leisteten. Als einer der ersten wurde Metin Türköz bekannt, der bei Ford in Köln arbeitete. Prägnant beschreibt er in „Fremde Heimat. Eine Geschichte der Einwanderung“, wie er zum Sänger der Fremde wurde: „Am Anfang hatten unsere Leute doch gar nichts, woran sie sich festhalten konnten. Es gab kein Radio, keine Tonbänder, keine Kassetten. Jeder sehnte sich nach Musik. Nun, ich konnte ein bisschen Bağlama (Langhalslaute) spielen. So floss alles, was wir erlebten, Schönes wie Bitteres, in die Saiten der Saz und in unsere Lieder.“

 

Auch der Film war schon früh in der türkischen Einwanderungsgeschichte ein wichtiges Medium, das bedeutsam war für die Verarbeitung der Migrationserfahrung. Bilder und Geschichten aus der Heimat linderten ein wenig das Heimweh. Türkische Filme gab es in deutschen Kinos nicht. Erste Anfänge eines selbst organisierten Filmangebots gab es Ende der 1960er Jahre. Oftmals wurden Kinos am Wochenende angemietet. Meistens wurden die seinerzeit sehr populären Yesilcam-Filme gezeigt. Das vermutlich erste Kino mit einem ausschließlich türkischen Filmangebot wurde dann 1971 in Berlin eröffnet – das Sinema Kent. Das kommunale Kino Cinema Ostertor in Bremen hat ab 1978 in Kooperation mit der Arbeiterwohlfahrt türkische Filme in Bürgerhäusern gezeigt.

 

Mit dem Aufkommen der Videokassetten zu Beginn der 1980er begann eine neue Phase der Rezeption türkischer Filme. Gemeinsame Videoabende wurden familiäre Events.

 

Aus der Gastarbeiterkultur, dem Mitgebrachten in der Fremde, entwickelte sich die Interkultur der Migranten. Derzeit gibt es eine zunehmende Zahl von Künstlerinnen und Künstlern aller Kunstformen, die in einer familiären Migrationsgeschichte sozialisiert wurden und künstlerische Ausdrucksformen für das Leben in einer Einwanderungsgesellschaft finden. Ob postmigrantisch die passende Kennzeichnung für diese Phase ist, wird sich zeigen.

 

Schaut man auf diese geschichtliche Entwicklung aus der gegenwärtigen Perspektive der Pandemie, so lässt sich diese so bündeln. „Und weil der Mensch ein Mensch ist“ so Bertolt Brecht, benötigt er Kultur als geistige Nahrung, um auch ein Mensch sein zu können. Oder ganz schlicht – Kultur ist systemrelevant.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 5/2021.


Copyright: Alle Rechte bei Deutscher Kulturrat

Adresse: https://www.kulturrat.de/themen/demokratie-kultur/arbeiterkultur/arbeit-wohnheim-bahnhof/