Diskussion einer Bildungs- und Wissenschaftsschranke im Urheberrecht: Stellungnahme des Deutschen Kulturrates

Berlin, den 18.06.2014. Der Deutsche Kulturrat, der Spitzenverband der Bundeskulturverbände, äußert sich zu der aktuellen Debatte über die Einführung einer sogenannten Bildungs- und Wissenschaftsschranke wie folgt:

 

I. Vorbemerkung

Schrankenregelungen sind Beschränkungen des Urheberrechts zu Gunsten von Nutzern. Aus Sicht der Urheber begrenzen sie ihr Recht, aus Sicht der Nutzer ermöglichen sie es, bestimmte Handlungen ohne Einwilligung der Urheber vorzunehmen.

 

Diesen Interessengegensatz gilt es, bei der Debatte um neue Schrankenregelungen stets im Blick zu behalten. Schrankenregelungen haben im deutschen Urheberrecht eine lange Tradition und spielen gerade auch in der digitalen Welt eine wichtige Rolle. Durch sie werden unter anderem Nutzungen für Wissenschaft und Unterricht, für behinderte Menschen oder zu Gunsten privater Verbraucher erlaubt. Sie sind Ausdruck der grundrechtlichen Sozialbindung des Urheberrechts nach Art. 14 Grundgesetz. Schrankenregelung sind vor allem sinnvoll, wo die Rechtsinhaber aus – in der Regel – praktischen Gründen keine Nutzungsrechte auf vertraglicher Grundlage einräumen können oder die tatsächlichen Nutzungen – nicht zuletzt zum Schutz der Privatsphäre – nur schwer feststellbar sind. Das zeigt sich insbesondere bei der seit knapp 50 Jahren bestehenden sog. Privatkopieschranke: weil gegenüber den privaten Nutzern ein Kopierverbot nicht durchgesetzt werden kann, wird die Privatkopie von dem urheberrechtlichen Verbotsrecht „ausgenommen“, doch die Rechteinhaber erhalten – über die von den Verwertungsgesellschaften geltend gemachte Geräte- und Betreibervergütung – eine angemessene Vergütung. Diese pragmatische Lösung des deutschen Gesetzgebers aus dem Jahr 1965 wurde von den meisten europäischen Ländern übernommen. Die Probleme, die ohne eine solche vergütungspflichtige Schranke entstehen, zeigen sich deutlich in Großbritannien: den Rechteinhabern gelingt es weder gegenüber den privaten Nutzern das Vervielfältigungsrecht durchzusetzen, noch erhalten sie – wie in Deutschland – eine Vergütung für das massenhafte Kopieren ihrer Werke im privaten Umfeld. Soweit derzeit in Großbritannien diskutiert wird, eine Privatkopieschranke ohne gesetzlichen Vergütungsanspruch einzuführen, hält dies der Deutsche Kulturrat im Hinblick auf die zwingenden Vorgaben des europäischen Rechts für äußerst problematisch.

 

Der Deutsche Kulturrat spricht sich dagegen aus, in Deutschland Fair-Use oder Fair-Dealing-Regelungen nach anglo-amerikanischem Muster einzuführen. Derartige Bestimmungen basieren allein auf dem dortigen Richterrecht. Sie bieten oft weniger Rechtssicherheit für den Nutzer als die im deutschen Urheberrecht verankerten konkreten Schrankenregeln. Letztere sind dadurch gekennzeichnet, dass zunächst der Gesetzgeber, das heißt das demokratisch gewählte Parlament, und nicht ein Gericht den Ausgleich zwischen den Interessen der Beteiligten vornimmt. Ferner sehen Schrankenregelungen – anders als Fair-Use-Bestimmungen – vielfach vor, dass für die gesetzlich erlaubte Nutzung eine angemessene Vergütung an Urheber und sonstige Rechteinhaber zu zahlen ist. Diese Vergütungsansprüche sind zum Schutz der Urheber unverzichtbar und werden über Verwertungsgesellschaften eingezogen, die die Einnahmen an die Urheber und sonstigen Rechteinhaber verteilen. Die Vorteile eines ausdifferenzierten Schrankensystems gegenüber Fair-Use-Lösungen liegen auf der Hand: das System der vergütungspflichtigen Schranken kann nicht nur das Interesse der Rechteinhaber an angemessener Vergütung für die Nutzung ihrer Werke und das Interesse der Nutzer an Teilhabe an kulturellem Schaffen in einen Ausgleich bringen. Es ermöglicht zudem, privilegierte Nutzer und Nutzungen genau zu definieren, um den Eingriff in das Ausschließlichkeitsrecht des Urhebers so gering wie möglich zu halten. Das System des Fair-Use erlaubt dagegen keine derartigen Lösungen, sondern kennt nur Verbotsrecht oder vergütungsfreie Nutzung.

 

Seit dem Inkrafttreten der Richtlinie 2001/29/EG zum Urheberrecht in der Informationsgesellschaft sind nur noch die dort abschließend aufgeführten Schrankenregelungen zulässig. Ferner müssen sie mit dem in der Richtlinie – und in verschiedenen Internationalen Übereinkommen – vorgesehenen Drei-Stufen-Test in Einklang stehen. Demnach dürfen Schrankenregelungen nur in bestimmten Sonderfällen angewandt werden (1. Stufe), in denen die normale Verwertung des Werks oder des sonstigen Schutzgegenstandes nicht beeinträchtigt wird (2. Stufe) und die berechtigten Interessen des Rechtsinhabers nicht ungebührlich verletzt werden (3. Stufe). Der Drei-Stufen-Test enthält in erster Linie eine Gestaltungsanordnung gegenüber dem nationalen Gesetzgeber, ist aber auch entscheidender Maßstab für die Anwendung der Schrankenregelungen im Einzelfall (vgl. BGH v. 28. November 2013 – I ZR 76/12 – Meilensteine der Psychologie).

 

II. Zur allgemeinen Bildungs- und Wissenschaftsschranke

Sofern eine allgemeine Bildungs- und Wissenschaftsschranke umgesetzt wird, muss diese nach Auffassung des Deutschen Kulturrates gerade auch mit Blick auf die Anforderungen der digitalen Welt an die Grundsätze der bereits bewährten Schrankenregeln anknüpfen und darüber hinaus mit dem Europarecht vereinbar sein.

 

Das bedeutet insbesondere, dass die engen Vorgaben des oben (unter I.) bereits erwähnten Drei-Stufen-Tests einzuhalten sind. Gleichzeitig müsste sie – im Interesse der Urheber und der Nutzer – die zu regelnden Ausnahmen vom Vervielfältigungsrecht und dem Recht der öffentlichen Zugänglichmachung klar und eindeutig beschreiben. Darauf basierend stellt der Deutsche Kulturrat fest:

 

  1. Die Sonderfälle für Bildung und Wissenschaft sind im Gesetz klar und unmissverständlich zu regeln. Der Deutsche Kulturrat lehnt jede Form von Generalklauseln im Zusammenhang mit Schrankenreglungen ab, weil der erforderliche Interessenausgleich zwischen Urhebern, Rechtsinhabern und Nutzern zuallererst durch den Gesetzgeber vorgenommen werden muss. Anderenfalls wird die Reichweite von Schrankenreglungen erst in langjährigen Gerichtsprozessen geklärt werden.Bei einer Zusammenführung aller Schrankenregelungen im Bildungs- und Wissenschaftsbereich sollte möglichst wenig auf unbestimmte Rechtsbegriffe, wie z.B. die „Gebotenheit“, ausgewichen werden. Denn unbestimmte Rechtsbegriffe beeinträchtigen ebenfalls die Rechtssicherheit, überfordern die Nutzer und beschränken die Rechte der Urheber stärker als für den jeweiligen Zweck erforderlich. Deshalb wäre zu überlegen, dass der Gesetzgeber zukünftig den Umfang von Obergrenzen von erlaubten Nutzungen, z.B. für „Teile“ und „kleine Teile“ von Werken, genau definiert.
  2. Zudem wäre im Einzelfall zu prüfen, für welche konkreten Nutzungshandlungen im Bereich von Bildung und Wissenschaft eine Schranke tatsächlich erforderlich und angemessen ist. Insofern wäre die Reichweite der bestehenden und künftigen Schrankenregelungen anhand der Vorgaben von Art. 5 der Richtlinie zu überprüfen. Gleichzeitig wäre zu evaluieren, welche konkreten Nutzungen im überwiegenden Interesse von Bildung und Wissenschaft durch welche Nutzer in welchen Einrichtungen tatsächlich schrankengestützt erlaubt werden müssten.
  3. Es müsste stets eine angemessene Vergütung der Rechteinhaber sichergestellt werden. Der Anspruch auf angemessene Vergütung wird im deutschen Urheberrecht durch die gesetzliche Zuständigkeit der Verwertungsgesellschaften durchgesetzt. Dies müsste auch im digitalen Umfeld beibehalten werden, wobei die Höhe der Vergütung möglichst der konkreten Werknutzung anzupassen wäre.
  4. Auch eine allgemeine Bildungs- und Wissenschaftsschranke dürfte nicht in den Primärmarkt der Rechteinhaber eingreifen. Dies ergibt sich auf EU-Ebene bereits aus dem Drei-Stufen-Test, wäre im deutschen Recht aber im Normtext klarzustellen. In diesem Zusammenhang wäre insbesondere zu gewährleisten, dass angemessene und praktikable Lizenzangebote möglich bleiben. Zusätzlich wäre zu berücksichtigen, dass es digitale und analoge Werke gibt, die ausdrücklich und ausschließlich für den Bildungs- und Wissenschaftsbereich hergestellt werden und deren Primärmarkt daher durch eine entsprechende Schranke beeinträchtigt werden könnte.

 

Der Deutsche Kulturrat betont, dass die in ihm vereinten Interessenvertretungen einer Zusammenführung bislang getrennt geregelter Sachverhalte im Rahmen einer Bildungs- und Wissenschaftsschranke positiv gegenüber stehen, wenn

 

  • klare und technologieneutrale Formulierungen mehr Rechtssicherheit für Urheber, sonstige Rechteinhaber und Nutzer herstellen,
  • die angemessene Vergütung der Urheber gewährleistet ist,
  • der Primärmarkt nicht beeinträchtigt wird,
  • der Drei-Stufen-Test stringent angewandt wird,
  • die Bildungs- und Wissenschaftsschranke nicht zu einer kostengünstigen Wissensversorgung von Schulen, Hochschulen und anderen Bildungs- und Wissenschaftseinrichtungen ausgenutzt wird.

 

Der Deutsche Kulturrat spricht sich für einen schnellen und unbürokratischen Zugang zu Wissen in Bildung und Wissenschaft aus, betont aber gleichzeitig, dass die Urheber ihrer anerkannten Rechte nicht beraubt werden dürfen.

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