Insgesamt fügt sich die Charta in den größeren Zusammenhang gegenwärtiger Positionierung von Muslimen in europäischen säkularen Rechtsstaaten. Hier sind argumentativ zwei unterschiedliche Ansätze erkennbar, die freilich nicht immer scharf voneinander zu trennen sind. Der weitestreichende Ansatz definiert Muslime und muslimisches Leben schlicht aus dem jeweiligen Lebenskontext heraus, also aus einer Position des „Dazugehörens“, der strukturellen Teilhabe an Gesellschaft und Staat. Dieser Ansatz ist historisch noch vergleichsweise neu; er findet Vertreter vor allem in denjenigen Weltregionen, in denen Muslime schon länger in größerer Zahl, aber als zahlenmäßige Minderheit leben, in denen aber auch Religionsfreiheit für Mehrheit und Minderheit nach einheitlichen rechtlichen Maßstäben gewährleistet wird. Traditionalisten werden sich nicht mit ihm anfreunden können. So ist die Aussage des bosnischen Großmufti Ceric, er verstehe das elementare Schutzgut „din“ im Islam nicht als „Religion“ (des Islams), sondern als Gemeinwohl aller, was z.B. auf den höhnischen Widerspruch des Vorstandsmitglieds des erwähnten IZ München al-Khalifa gestoßen ist.
Sehr viel breiter etabliert und seit vielen Jahrhunderten entwickelt ist der Ansatz, auf den sich auch die Charta des ZMD stützt. Er besagt, dass Muslime, die sich auf nicht islamisch beherrschtem Territorium aufhalten, wegen der dort gewährleisteten Sicherheit die dortigen Gesetze auch aus muslimischer Sicht einhalten müssen. Sollten sie der Auffassung sein, dort ihren Glauben nicht hinreichend praktizieren zu können, sind sie gehalten, in ein islamisch beherrschtes Land auszuwandern, in dem dies gewährleistet ist. Auf dieses Begründungsmuster stützt sich offenbar die Charta. Ein solcher – durchaus rechtsfreundlicher – Ansatz dürfte traditionell orientierten Muslimen besonders leicht zu vermitteln sein, und dies dürfte auch eine der wesentlichen Intentionen für die Wahl der Argumentation gewesen sein.
Selbstverständlich bedarf der Geltungsanspruch der deutschen Gesetze keiner zusätzlichen religiösen Begründung. Es dürfte aber stabilisierend zugunsten des Rechtsstaats wirken, wenn religiöse Menschen zusätzlich auch aus der Sicht ihrer Religion Rechtstreue bejahen. Damit werden Grundlagen zumindest für ein friedliches Nebeneinander gelegt. Offen muss bleiben, inwieweit der traditionelle Ansatz auch dort tragen kann, wo eine aktive Bejahung der wesentlichen Rechtsgrundlagen gefordert werden kann, wie bei der Übernahme öffentlicher Ämter oder bei der Einbürgerung. Hier mag eine psychologische Barriere vorhanden sein, wenn man sich selbst in einer strukturellen „Auslandsposition“ und damit in einem religiösen Ausnahmezustand sieht. Gegenwärtige Versuche, ein religiöses Normensystem für muslimische Minderheiten (sog. „fqh al-aqalliyat“) zu entwickeln, changieren zwischen abgrenzender Identitätswahrung und Entwicklung einer muslimischen Selbstdefinition als Teil der umgebenden Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund ist die Etablierung einer authentischen muslimischen Normenlehre im Rahmen des säkularen Rechtsstaats auf akademischem Niveau mehr als wünschenswert, wie sie nun im mehreren deutschen Universitäten erfolgt, darunter auch an derjenigen, an welcher der Verfasser lehrt und forscht. Stoff für weitere Debatten könnte etwa die Frage liefern, ob es wirklich den Intentionen des Islams entspricht, es in Deutschland lebenden Muslimen nahezulegen, die hier geltende Testierfreiheit zu nutzen, um die traditionelle erbrechtliche Ungleichbehandlung der Geschlechter in die Gegenwart hinein fortzuschreiben, in der Frauen wie Männer gleichermaßen zum Familienunterhalt in all seinen Formen beizutragen pflegen und deshalb keine sachlichen Gründe für ein angebliches „Kompensationsbedürfnis“ zugunsten von Männern ersichtlich sind.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 1/2011.