Täglich wird islamisches Recht angewandt

Gabriele Schulz im Gespräch mit Mathias Rohe

Welche Rolle islamisches Recht in Deutschland spielt, fragte Gabriele Schulz den Islamwissenschaftler und Juristen Mathias Rohe.

 

War für Sie 09/11 ein Anlass sich mit dem islamischen Recht zu befassen oder liegen die Gründe schon weiter zurück?
Bei mir liegen die Gründe schon sehr viel weiter zurück. Ich befasse mich mit dem islamischen Recht schon seit Anfang der 1980erJahre. Ich habe Islamwissenschaft und Jura studiert. Von daher hat mich in meinem islamwissenschaftlichen Studium besonders auch der rechtswissenschaftliche Bereich interessiert.

 

Wie entstand dieses Interesse?
Es entstand zuerst über die Berufstätigkeit meines Vaters. Er war im Orient in der internationalen Bauindustrie geschäftlich tätig. Ich war also schon als kleiner Junge vor Ort und mich hat diese Welt fasziniert. Diese Faszination hat schließlich dazu geführt, dass ich mehr über die Region erfahren wollte.

 

Wollten Sie vor diesem Hintergrund mehr über das islamische Recht wissen?
So war es, und es war gar nicht so einfach, das Doppelstudium Jura und Islamwissenschaft zu absolvieren. Ich musste eine Ausnahmegenehmigung für diese Studienkombination beantragen. Dabei wurde ich gefragt, was ich denn mit dieser Ausbildung wolle. Sie war nicht das, was man als Mainstream bezeichnen würde.

 

Besteht heute eine andere Situation? Gerade auch an Ihrem Lehrstuhl?
Islamisches Recht wird heute deutlich stärker nachgefragt. Da die vertiefte Beschäftigung mit islamischem Recht aber nach wie vor an sehr wenigen Standorten in Deutschland stattfindet, zieht es einige Studierende an den Studienort Erlangen.

 

Hat das islamische Recht für uns in Deutschland eine Bedeutung?
Es hat deshalb eine Bedeutung, weil das deutsche Recht ihm eine Bedeutung verleiht. In bestimmten Zusammenhängen schreibt das deutsche Recht vor oder ermöglicht zumindest, dass auch ausländische Rechtsvorschriften hier Anwendung finden. Das gilt selbstverständlich nicht für das Strafrecht oder das öffentliche Recht. Es gilt aber in manchen Bereichen des bürgerlichen Rechts, wenn es also um vorwiegend private Rechtsbeziehungen geht, nämlich dann, wenn die Rechtsverhältnisse international werden. Beispiele hierfür sind gemischtnationale Ehen oder Ausländer, die sich hier aufhalten. Dann schreibt unser eigenes Recht vor, dass wir das Heimatrecht dieser Personen anzuwenden haben, wenn bestimmte Fragen, zum Beispiel Familienangelegenheiten betroffen sind.

 

Findet das in der Praxis auch Anwendung?
Jeden Tag. Unsere Standesämter, unsere Verwaltungen, unsere Gerichte müssen jeden Tag ausländisches Recht anwenden. Diese Anwendung hat allerdings auch ihre Grenzen. Noch einmal, unser eigenes Recht ordnet die Anwendung ausländischen Rechts, also auch des islamisch geprägten ausländischen Rechts, an. Unser Recht schließt die Tür zugleich aber auch. Nämlich dann, wenn das Ergebnis der Anwendung ausländischen Rechts mit unseren grundlegenden Rechtsvorstellungen nicht vereinbar ist. Im Sinne des Vertrauensschutzes sind wir einerseits bereit, fremdes Recht anzuwenden, weil sich Menschen darauf verlassen, dass ihre nach ausländischem Recht geordneten Verhältnisse auch hier fortbestehen. Diese Anwendung bedeutet andererseits nicht, dass wir deshalb unsere Rechtsvorstellungen aufgeben. Nehmen wir als Beispiel die Ungleichheit der Geschlechter, die in manchen Rechtsordnungen gilt. Diese wird grundsätzlich nicht akzeptiert, nur in denjenigen Ausnahmefällen, in denen wenig Bezug zum Inland besteht oder in denen sich auch die hier lebenden Ausländer darauf eingerichtet haben, beispielsweise bei Anerkennung einer vom Ehemann unter Bezug auf islamisch geprägtes Recht im Ausland einseitig vorgenommene Scheidung, mit der auch die Ehefrau einverstanden ist. Im Inland würde dergleichen selbstverständlich nicht anerkannt.

 

Ist das islamische Recht, abgesehen von der Rechtspraxis, die Sie eben geschildert haben, aus rein wissenschaftlicher Sicht ebenfalls ein interessantes Thema?
Absolut. Vor allem deshalb, weil die Scharia (religiöse und rechtliche Normen des Islams) etwas ganz anderes ist als ein einfaches Gesetzbuch. Sie ist eine hochkomplexe Materie, die sich über die Jahrhunderte stets gewandelt hat und sich gerade auch in unserer Zeit immer wieder verändert. Wenn Sie heute den Rechtszustand in Marokko, Tunesien, Saudi-Arabien und dem Iran vergleichen, so stellen Sie fest, dass sich alle auf die Scharia berufen, aber zu außerordentlich unterschiedlichen Ergebnissen zum Beispiel beim Geschlechterverhältnis gelangen. Um es zuzuspitzen: Man kann auf islamischen Grundlagen ebenso sehr einen demokratischen Rechtsstaat legitimieren wie eine Religionsdiktatur iranischer oder saudi-arabischer Ausprägung.

 

Hat das islamische Recht auch eine Relevanz für das Völkerrecht?
In gewissem Umfang zwar schon, das Völkerrecht wird aber von allen Rechtsordnungen der Welt geprägt. Konkret erleben wir, dass bei internationalen Verträgen islamische Staaten häufig sogenannte Scharia-Vorbehalte einfügen. Das heißt, sie akzeptieren bestimmte Vorschriften nur im Rahmen der Scharia, also des islamischen Rechts. Das führt zu Problemen, etwa bei der Religionsfreiheit oder der Gleichberechtigung der Geschlechter.

 

Wird das islamische Recht seit 9/11 anders gesehen oder stellen Sie keine Veränderung fest?
Der 11. September und seine Folgeerscheinungen haben sehr vieles verändert. Der Islam ist zu einem Angstfaktor geworden. Und das islamische Recht wurde von vielen pauschal zu einem Gegenpol einer freiheitlichdemokratischen Rechtsordnung stilisiert. Der islamisch begründete Extremismus wird in der Folge von 9/11 teilweise als repräsentativ für den gesamten Islam angesehen. Mir ist auch aufgefallen, dass sich die Interessenten an dem Thema verändert haben.

 

Inwiefern?
Vor 9/11 waren es oft kulturell interessierte Personen und Organisationen aus dem Umfeld der Wissenschaft oder der Kirchen, die sich für das Thema interessiert haben. Seit 9/11 haben auch Politik und Verwaltung wie die Innenministerien weltweit großes Interesse an dem Thema, zunächst vor allem aus Sicherheitsaspekten. Das ist im Ergebnis nicht nur schlecht, denn dadurch ist das Thema Islam auch im Hinblick auf ein gleichberechtigtes Zusammenleben mit der übergroßen Mehrzahl friedliebender Muslime ganz oben auf der politischen Agenda gelandet. Diese Aufmerksamkeit ist deshalb wichtig, weil unterschieden werden muss, wo reale Gefahren durch den Extremismus bestehen und wo es keine Gefahren oder Probleme gibt und diese letztlich von Islamhassern konstruiert werden. Insgesamt ist trotz aller Sarrazinaden auch wieder die Bereitschaft gewachsen, sich mit dem Thema differenzierter auseinanderzusetzen.

 

Herr Rohe, vielen Dank für das Gespräch.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 5/2011.

Mathias Rohe und Gabriele Schulz
Mathias Rohe ist Professor für Bürgerschaftliches Recht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und Gründungsdirektor des Erlangen-Zentrums für Islam und Recht in Europa. Gabriele Schulz ist stellvertretende Geschäftsführerin des Deutschen Kulturrates.
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