Scharia und Grundgesetz: Ein Widerspruch?

Die Islamische Charta des Zentralrats der Muslime in Deutschland

Viele werden die Titelfrage ohne weiteres bejahen. Aber stimmt das? Die wenig spektakuläre Antwort des Juristen und Islamwissenschaftlers muss lauten: Es kommt darauf an. Entgegen landläufigen Fehlverständnissen ist die Scharia alles andere als ein Gesetzbuch. In einem weiteren Sinne umfasst sie alle religiösen und rechtlichen Normen des Islams einschließlich der Lehre über die Methoden ihrer Auffindung und Interpretation, also Ritualgebote oder Speisevorschriften ebenso wie Normen des Vertrags-, Wirtschafts-, Familien- oder Strafrechts. Ein unter Nichtmuslimen, aber auch manchen Muslimen verbreitetes enges Verständnis beschränkt sie auf Rechtsbereiche wie Familien- und Erbrecht, Strafrecht und Staatsrecht. Hier liegen denn auch die möglichen Konfliktbereiche, soweit nach traditionellen, zum Teil bis heute fortgeschriebenen Interpretationen eine Ungleichbehandlung der Geschlechter und Religionen sowie eine unter maßgeblichem Einfluss von Religionsgelehrten stehende Staatsorganisation vorgeschrieben wird.

 

Daran wird deutlich, dass aus Sicht des deutschen Rechts zwischen den einzelnen Regelungsbereichen unterschieden werden muss: Religiöse Normen der Scharia wie Ritualvorschriften genießen den Schutz der grundgesetzlich garantierten Religionsfreiheit. Rechtliche Normen können hingegen nur dann zur Anwendung kommen, wenn das deutsche Recht selbst dies ermöglicht oder sogar vorschreibt. Dies ist der Fall z. B. bei Instrumenten islamkonformen Wirtschaftens oder bei internationalen Lebensverhältnissen etwa im Bereich des Familienrechts, soweit das Ergebnis der Anwendung solcher Vorschriften nicht dem grundlegenden deutschen Rechtskonsens („ordre public“) widerspricht.

 

Eines der ersten Dokumente in Deutschland zur Positionierung von Muslimen in diesen Fragen ist die Islamische Charta des Zentralrats der Muslime in Deutschland (ZMD) von 2002. Sie enthält theologische wie auch staatsbürgerlich orientierte Positionsbestimmungen; nur letztere können hier angesprochen werden. Entgegen der engen Formulierung in der Präambel richtet sie sich inhaltlich an die deutsche nicht-muslimische Mehrheitsgesellschaft, aber auch an die hiesigen Muslime. Damit ist zugleich ein Verständnisproblem angesprochen: Manche in der Charta aufgeführten Aussagen sind nur auf der Grundlage solider islamwissenschaftlicher Kenntnisse verständlich. Das betrifft gerade diejenigen Passagen, die sich mit dem Verhältnis zur Rechtsordnung des säkularen Staates befassen (Art. 10 bis 13). Sie enthalten wichtige und in einem Punkt sogar bahn brechende Aussagen, knüpfen allerdings an eine für weite Kreise unverständliche islamrechtliche Terminologie an. Die herausgehobene Akzeptanz einzelner Rechtsbereiche, wie der Grundlagen des demokratischen Rechtsstaats oder des Familien- und Erbrechts, hat zur Frage veranlasst, was denn für die nicht genannten Bereiche gelte. Hierzu muss man wissen, dass gerade in den genannten Bereichen das eigentliche rechtskulturelle Konfliktpotenzial zwischen deutschem und traditionellem islamischem Recht liegt; wenn hier das deutsche Recht akzeptiert wird, sind die damit verbundenen Probleme insgesamt bewältigt.

 

Essenziell neu und überaus begrüßenswert ist die deutliche Formulierung allgemeiner Religionsfreiheit unter Bezugnahme auf die koranische Aussage in Sure 2, 256, wonach es keinen Zwang in der Religion gibt. In der klassischen Literatur herrscht Uneinigkeit darüber, ob damit nur innerislamischer Pluralismus geschützt wird, oder ob auch Angehörige anderer Religionen gemeint sind, wie etwa der bedeutende Korankommentator Ibn Kathir es versteht. Die Aussage in Art. 11 ist klar formuliert; mehrfache Nachfragen bei Repräsentanten des Zentralrats der Muslime (ZMD), auch durch den Verfasser vor laufender Fernsehkamera, haben ergeben, dass damit auch der mögliche Austritt aus dem Islam gemeint sei. Ebenso neu und vorbildlich ist die offene Akzeptanz des Nicht-Glaubens. Offen bleibt, ob die erläuternde Aussage des ehemaligen Vorsitzenden des ZMD Köhler, die Charta sei eine Diskussionsgrundlage und kein theologisches Papier (nachzulesen unter http://islam.de/16082.php), relativierend wirken soll. Immerhin werden dort die Aussagen der Charta dann aber doch wieder als die theologische Grundüberzeugung des ZMD bezeichnet. In einigen muslimischen Organisationen Europas hat die Charta Vorbildfunktion gewonnen. Der damalige bayerische Innenminister Beckstein hat sie als wichtigen Schritt in Richtung Integration bezeichnet. In der Tat spiegelt die Charta zugleich die Migrationsgeschichte des Islams in Deutschland, wenn in Art. 10 auf Visum, Aufenthaltsgenehmigung und Einbürgerung als Grundlagen der Verpflichtung auf die deutsche Rechtsordnung genannt werden, nicht aber die Staatsbürgerschaft als solche.

 

Die Charta ist andererseits nicht ohne Kritik geblieben, die teilweise sehr nüchternsachlich, teils aber auch höchst polemisch und mit starkem Willen zum Missverständnis formuliert wurde. Letzteres gilt sicherlich auch für die Kritik von innen: Ahmad von Denffer, führender Vertreter einer Mitgliedsorganisation des ZMD (Islamisches Zentrum München, IZ), hat den Verfassern vorgeworfen, wie der Märchenwolf „Kreide gefressen zu haben“. Das bedient vorzüglich die Vorurteile von Islamhassern.

 

 

Insgesamt fügt sich die Charta in den größeren Zusammenhang gegenwärtiger Positionierung von Muslimen in europäischen säkularen Rechtsstaaten. Hier sind argumentativ zwei unterschiedliche Ansätze erkennbar, die freilich nicht immer scharf voneinander zu trennen sind. Der weitestreichende Ansatz definiert Muslime und muslimisches Leben schlicht aus dem jeweiligen Lebenskontext heraus, also aus einer Position des „Dazugehörens“, der strukturellen Teilhabe an Gesellschaft und Staat. Dieser Ansatz ist historisch noch vergleichsweise neu; er findet Vertreter vor allem in denjenigen Weltregionen, in denen Muslime schon länger in größerer Zahl, aber als zahlenmäßige Minderheit leben, in denen aber auch Religionsfreiheit für Mehrheit und Minderheit nach einheitlichen rechtlichen Maßstäben gewährleistet wird. Traditionalisten werden sich nicht mit ihm anfreunden können. So ist die Aussage des bosnischen Großmufti Ceric, er verstehe das elementare Schutzgut „din“ im Islam nicht als „Religion“ (des Islams), sondern als Gemeinwohl aller, was z.B. auf den höhnischen Widerspruch des Vorstandsmitglieds des erwähnten IZ München al-Khalifa gestoßen ist.

 

Sehr viel breiter etabliert und seit vielen Jahrhunderten entwickelt ist der Ansatz, auf den sich auch die Charta des ZMD stützt. Er besagt, dass Muslime, die sich auf nicht islamisch beherrschtem Territorium aufhalten, wegen der dort gewährleisteten Sicherheit die dortigen Gesetze auch aus muslimischer Sicht einhalten müssen. Sollten sie der Auffassung sein, dort ihren Glauben nicht hinreichend praktizieren zu können, sind sie gehalten, in ein islamisch beherrschtes Land auszuwandern, in dem dies gewährleistet ist. Auf dieses Begründungsmuster stützt sich offenbar die Charta. Ein solcher – durchaus rechtsfreundlicher – Ansatz dürfte traditionell orientierten Muslimen besonders leicht zu vermitteln sein, und dies dürfte auch eine der wesentlichen Intentionen für die Wahl der Argumentation gewesen sein.

 

Selbstverständlich bedarf der Geltungsanspruch der deutschen Gesetze keiner zusätzlichen religiösen Begründung. Es dürfte aber stabilisierend zugunsten des Rechtsstaats wirken, wenn religiöse Menschen zusätzlich auch aus der Sicht ihrer Religion Rechtstreue bejahen. Damit werden Grundlagen zumindest für ein friedliches Nebeneinander gelegt. Offen muss bleiben, inwieweit der traditionelle Ansatz auch dort tragen kann, wo eine aktive Bejahung der wesentlichen Rechtsgrundlagen gefordert werden kann, wie bei der Übernahme öffentlicher Ämter oder bei der Einbürgerung. Hier mag eine psychologische Barriere vorhanden sein, wenn man sich selbst in einer strukturellen „Auslandsposition“ und damit in einem religiösen Ausnahmezustand sieht. Gegenwärtige Versuche, ein religiöses Normensystem für muslimische Minderheiten (sog. „fqh al-aqalliyat“) zu entwickeln, changieren zwischen abgrenzender Identitätswahrung und Entwicklung einer muslimischen Selbstdefinition als Teil der umgebenden Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund ist die Etablierung einer authentischen muslimischen Normenlehre im Rahmen des säkularen Rechtsstaats auf akademischem Niveau mehr als wünschenswert, wie sie nun im mehreren deutschen Universitäten erfolgt, darunter auch an derjenigen, an welcher der Verfasser lehrt und forscht. Stoff für weitere Debatten könnte etwa die Frage liefern, ob es wirklich den Intentionen des Islams entspricht, es in Deutschland lebenden Muslimen nahezulegen, die hier geltende Testierfreiheit zu nutzen, um die traditionelle erbrechtliche Ungleichbehandlung der Geschlechter in die Gegenwart hinein fortzuschreiben, in der Frauen wie Männer gleichermaßen zum Familienunterhalt in all seinen Formen beizutragen pflegen und deshalb keine sachlichen Gründe für ein angebliches „Kompensationsbedürfnis“ zugunsten von Männern ersichtlich sind.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 1/2011.

Mathias Rohe
Mathias Rohe ist Professor für Bürgerschaftliches Recht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und Gründungsdirektor des Erlangen-Zentrums für Islam und Recht in Europa.
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