Die Perspektive wechseln: Zur kulturellen Dimension der Nachhaltigkeitsdebatte

D as im Jahr 1972 erschienene Buch »Die Grenzen des Wachstums« markiert einen Wendepunkt. Die vorherigen zwei Jahrzehnte waren in Westeuropa sowie den USA Jahrzehnte des vermeintlich unbegrenzten Wachstums. Aufbau von Industriezweigen, die bemannte Raumfahrt, Vollbeschäftigung, Expansion des Wissenschafts- und des Hochschulsektors – alles schien auf unbegrenztes Wachstum hinauszulaufen. In Westdeutschland konnte sich endlich etwas gegönnt werden. Die Probleme der sogenannten Dritten Welt waren weit weg.

 

Der mit dem Wachstum verbundene Fortschrittsoptimismus erhielt durch das erwähnte Buch einen ersten empfindlichen Dämpfer. Höher, schneller, weiter schien nicht automatisch zu mehr Wohlstand zu führen. Die Studie »Die Grenzen des Wachstums« war vom Club of Rome in Auftrag gegeben und unter anderem von der Volkswagen Stiftung finanziert worden. Anhand von umfänglichen Computersimulationen – seinerzeit noch mit raumfüllenden Großrechenanlagen – wurde berechnet, welche Folgen der weitere Ressourcenverbrauch für unseren Planeten hat und welche Konsequenzen ein weiteres Wachsen der Erdbevölkerung nach sich ziehen würde.

 

Mich hat dieses Buch als Jugendlicher elektrisiert. Ohnehin fasziniert von der Schönheit des Makro- wie des Mikrokosmos, erschreckten mich die in dem Buch aufgezeigten Szenarien. Weitere »Schreckensmeldungen« folgten bis heute, die nur stichwortartig genannt werden sollen: Ölkrise, Kritik an der »Zukunftstechnologie« Atomkraft, Waldsterben, Artenschwund.

 

Zwei Lager entstanden: Die einen, die fest davon überzeugt waren, dass Wohlstand und Fortschritt nur durch ein »Weiter so«, also durch ein immer mehr, immer schneller gesichert werden können und davor warnten, die Industrienation Deutschland im internationalen Wettbewerb zurückzuwerfen. Die anderen, die mahnten, dass ein »Weiter so« auf Dauer nicht möglich sein wird, da die Ressourcen unseres Planeten endlich sind.

 

Geprägt war die Diskussion von Verlust und Verzicht. Weniger Auto fahren, weniger Fleisch essen, weniger Wasser verbrauchen, weniger Emissionen, das waren und sind die Schlagworte für nachhaltige Entwicklung. Sie trafen, als sie erstmals formuliert wurden, auf ein gesellschaftliches Klima, in dem die Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung froh und glücklich war, sich mehr leisten zu können. Endlich ein Auto zu haben, endlich in den Urlaub in die Ferne zu reisen, endlich nicht nur sonntags Fleisch.

 

Die seinerzeit geprägte Verzichts- und Verlustlogik, die ein fast asketisches Leben zum Ideal erhob, ist meines Erachtens eines der größten Probleme in der Debatte um Nachhaltigkeit. Diese Logik umzudrehen, die Perspektive zu wechseln, ist darum die wichtigste Aufgabe bei der Umsetzung der UN-Nachhaltigkeitsziele. Und dieses ist zuallererst eine kulturelle Herausforderung.

 

Die UN-Agenda 2030 hat selbst bereits einen wichtigen Beitrag zum notwendigen Perspektivwechsel geleistet. Sie richtet sich an die gesamte Völkergemeinschaft. Es ist keine UN-Agenda, die allein für die Länder des Nordens oder die Länder des Südens gilt, sondern alle sind gefordert, die 17 Ziele in nationale Politik umzusetzen und sich auch in internationalen Abkommen daran gebunden zu fühlen. Konsequent zu Ende gedacht, bedeutet dies, dass Nachhaltigkeitspolitik tatsächlich eine Querschnittsaufgabe ist, die alle fordert, die Regierungen, die Zivilgesellschaft aber auch jeden Einzelnen.

 

Der Deutsche Kulturrat hat eine eigene Arbeitsgruppe Agenda 2030 gegründet, in der er sich mit der Umsetzung dieser UN-Agenda im Kulturbereich auseinandersetzt. Dabei geht es um Fragen einer nachhaltigen Stadtplanung und Architektur, um die Entwicklung und Marktplatzierung von nachhaltigem Design, um Geschlechtergerechtigkeit im Kultur- und Medienbetrieb, um Zugang zu Wissen und Information und vieles andere mehr. Im von VENRO und dem Forum Umwelt und Entwicklung koordinierten Netzwerk zur Agenda 2030 wird der Deutsche Kulturrat seine Sichtweisen einbringen. Bereits seit einigen Jahren engagiert sich der Deutsche Kulturrat für einen gerechten Welthandel und gehört zu den Mitbegründern und Trägern des Netzwerks Gerechter Welthandel. Hier geht es darum, die Diskussion um Handelsabkommen weiterzudenken, von dem Schutz des eigenen Bereiches zu abstrahieren und insgesamt für eine gerechte Weltwirtschaftsordnung einzutreten, die den Ländern des Südens faire Marktchancen gibt. Der Deutsche Kulturrat arbeitet weiter mit der Klima Allianz Deutschland zusammen, um auch hier zu unterstreichen, dass Klimafragen eine kulturelle Dimension haben.

 

Die verschiedenen Aktivitäten sollen einen Beitrag zum Perspektivwechsel leisten. Es gilt, zum einen innerhalb des Kultursektors stärker für das Nachhaltigkeitsthema zu sensibilisieren, denn unsere unmittelbare Umwelt hat Auswirkungen auf die Art und Weise, wie wir leben. Es heißt zum anderen, klarzustellen und mit Leben zu erfüllen, dass der Kulturbereich zur Nachhaltigkeitsdebatte mehr beitragen kann als das Bühnenprogramm bei Klimakonferenzen.

 

Der Mensch ist ein lustbetontes Wesen. Etwas zu tun, dass Freude macht, das nicht den Verzicht, sondern den Gewinn betont, animiert zum Mitmachen.

 

Das Thema Nachhaltigkeit muss kulturell bearbeitet werden. Wenn uns dies gelingt, wird nicht mehr der Verzicht als erstes stehen, sondern der Gewinn. Der ökonomische Gewinn, denn nachhaltiges Wirtschaften ist längst ein Markt und Wirtschaftsfaktor. Der ökologische Gewinn, denn der Erhalt unserer natürlichen Lebensgrundlagen ist essenziell für unser Überleben. Der soziale Gewinn, denn eine nachhaltige Gesellschaft orientiert sich am Gemeinwohl. Der gesellschaftliche Gewinn, denn in einer Welt zu leben, in der Natur und Kultur dauerhaft miteinander auskommen, ist die Voraussetzung für ein gutes Leben.

 

 

Olaf Zimmermann
Olaf Zimmermann ist Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates und Herausgeber und Chefredakteur von Politik & Kultur.
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