Die Idee der Plastizität

Zur Erweiterung des kulturellen Nachhaltigkeitsbegriffes

Das Haus der Kulturen der Welt ist Ausgangspunkt und Denkstube für Nachhaltigkeitskonzepte und Anthropozänprojekte. Theresa Brüheim spricht mit dem Intendanten Bernd Scherer.

 

Theresa Brüheim: Herr Scherer, was verstehen Sie unter kultureller Nachhaltigkeit?

Bernd Scherer: Für mich ist der Nachhaltigkeitsbegriff von grundlegender Bedeutung. Der Fortschrittsglaube der Moderne hat dahin geführt, dass Kreativität und Innovation im Zentrum unseres Denkens stehen. Das Problem, mit dem wir dann aber konfrontiert sind, ist, dass nicht alles, was denkbar und machbar, zugleich wünschenswert ist. Daher war es ein ganz wichtiger Schritt, Parameter bzw. Gesichtspunkte einzuführen, nach denen man neue Entwicklungen bewertet und politisch verhandelbar macht. Dazu liefert der Nachhaltigkeitsbegriff vor allem im politischen Feld wesentliche Gesichtspunkte.

Der zweite Punkt, der wichtig ist: Der Nachhaltigkeitsbegriff macht deutlich, dass man darauf achten sollte, sich nicht auf Einzelentwicklungen zu konzentrieren und sie zu verabsolutieren, sondern sie in größeren Kontexten und Zusammenhängen zu sehen und zu lesen. Das ist gerade von Bedeutung in einer Gesellschaft, deren Wissen immer fragmentierter wird und in der es sehr schnell vorkommt, dass eine Gruppe, eine Institution oder ein Betrieb sich auf eine bestimmte Form von Entwicklung konzentriert, ohne den Gesamtzusammenhang in den Blick zu nehmen.

Drittens verweist das Kriterium der Nachhaltigkeit darauf, dass wir das Morgen mitdenken sollten. Es fordert dazu auf, die Konsequenzen unseres Handelns für zukünftige Generationen zu berücksichtigen. Hier sehe ich einen Erweiterungsbedarf für das Konzept der Nachhaltigkeit, der uns direkt zu dem Großprojekt führt, an dem das Haus der Kulturen der Welt (HKW) seit Längerem arbeitet, dem Anthropozän.

 

Das Anthropozän, das Zeitalter des Menschen – ein Thema, das unmittelbar mit Nachhaltigkeit zu tun hat…

Die Vorstellung, man könne und solle die Zukunft mitdenken, unterstellt ein mehr oder weniger stabiles Erdsystem. Nur dann lassen sich klare Annahmen über die Zukunft treffen. Diese Vorstellung rührt von der Erfahrung aus der Erdepoche, in der wir bis vor Kurzem lebten, dem Holozän. Unter anderem war das Holozän geprägt von einem relativ stabilen Klima, das den Ackerbau und die Sesshaftwerdung von Menschen begünstigte und daran anschließend Städtebau ermöglichte.

Die Erweiterung der Nachhaltigkeitsidee hängt nun wesentlich von der Tatsache ab, dass wir mit einiger Sicherheit in einem neuen Erdzeitalter leben, dem Anthropozän. Dabei spielen zwei Entwicklungen eine grundlegende Rolle: Erstens hat in den Wissenschaften im 20. Jahrhundert, vor allem in den Naturwissenschaften, eine wesentliche Transformation stattgefunden. Ursprünglich waren sie dafür da, Erkenntnisse über die Natur in Form von Gesetzen herzustellen. Mit der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert, verstärkt aber nach dem Zweiten Weltkrieg, tritt eine neue Entwicklung ein: Man analysiert nicht weiter nur die Welt, sondern schafft mithilfe von Technologien neue Welten. Diese stellt man synthetisch aus den kleinsten Teilen – Atom, Molekül, Bit usw. – her, auf die man in der Forschung die Phänomene der Wahrnehmungswelt zurückgeführt hat.

Durch die ständige Schaffung immer neuerer technologischer Infrastrukturen entsteht eine Dynamisierung, die das Erdsystem als Ganzes permanent umformt. In immer kürzeren Rhythmen entstehen neue Technologien. Das Weltverständnis wird nicht mehr durch den Wechsel zwischen Menschen, sondern zunehmend von sich ablösenden Technologiegenerationen geprägt. Dies führt zu einer Destabilisierung unserer Welt, die man sich am Beispiel des Klimawandels vor Augen führen kann. Nehmen Sie im August bzw. September die Hurrikansituation in den Vereinigten Staaten: Dort hat die Klimaveränderung dazu geführt, dass in einem hochindustrialisierten Land ganze Infrastrukturen unter Wasser gesetzt worden sind: Ein extremer Eingriff, der, ausgehend von menschlichem Handeln, nämlich industrieller Produktion, über Klimaveränderungen, also natürlichen Prozessen, rückwirkt auf die Gesellschaft.

In welcher Geschwindigkeit mittlerweile Transformationen über von Menschen geschaffene Infrastrukturen erfolgen, verdeutlichen auch die Finanzmärkte. Dank Algorithmen und digitaler Technologie können Trader an den Finanzmärkten innerhalb von Millisekunden Entscheidungen über die weltweite Allokation von Hunderten von Millionen Euro treffen und damit Entwicklungen an den jeweiligen Orten entscheidend verändern.
Vor diesem Hintergrund muss man die klassische Vorstellung von Nachhaltigkeit hinterfragen. Deutlich wird, die Dynamiken, mit denen wir konfrontiert sind, sind geprägt von einer vorher nicht gekannten Geschwindigkeit, während der Nachhaltigkeitsbegriff im Hinblick auf den Zeitbegriff, der in ihm steckt – nämlich die Planbarkeit der Zukunft – die mehr oder weniger stabile Welt des Holozäns voraussetzt.

Bernd Scherer und Theresa Brüheim
Bernd Scherer ist Intendant des Hauses der Kulturen der Welt (HKW) in Berlin. Theresa Brüheim ist Chefin vom Dienst von Politik & Kultur.
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