Vergangenheit, die nicht vergeht

Islamfeindlichkeit ist nicht das Gleiche wie Antisemitismus

Ich wohne seit einem halben Jahr im Süden von Hamburg am Rande der Heide und an Hügeln, die Harburger Berge heißen: Endmoränen der letzten Eiszeit, die bis vor 10.000 Jahren weite Teile Europas bedeckte. Auf der höchsten dieser Erhebungen in der platten norddeutschen Tiefebene soll einst Klaus Störtebeker sein Versteck gehabt haben, bis Hamburger Reeder und Kaufleute, deren Koggen er und seine Piraten-Kumpanen regelmäßig ausraubten und versenkten, ihn fangen und köpfen ließen. Als ich jetzt zum ersten Mal den Falkenberg erklomm, sah ich am Fuß des Hügels eine merkwürdige Plattform. Unter Gras und Gestrüpp ist Beton zu erkennen. Was hat es damit in diesem Naturschutzgebiet auf sich, fragte ich mich. Ein Findling löste das Rätsel. Auf einer eingelassenen Platte steht: „An dieser Stelle war bis Februar 1945 eine Außenstelle des KZ Neuengamme. 500 jüdische Frauen mussten unter lebensgefährlichen Verhältnissen für Bauunternehmen im Süden Hamburgs Zwangsarbeit leisten.“ Sie mussten auch Trümmer und Bomben räumen. Die Frauen kamen zum Teil aus Auschwitz. Als die Alliierten näher rückten, wurden die verbliebenen Jüdinnen ins KZ Bergen-Belsen gebracht. Von den wenigen Überlebenden starben die meisten dort auch noch nach der Befreiung an Unterernährung und Seuchen.

 

Ich saß eine ganze Weile auf einer Bank am Rand der Fläche und dachte darüber nach, wer wohl diese Frauen gewesen waren, aus welchen Gegenden Europas sie stammten, was sie für ein Leben geführt hatten, bevor sie hierher verschleppt wurden. Wie sie gelitten haben müssen bei der schweren, gefährlichen Arbeit, sommers wie winters, und wie sie in Baracken an diesem Platz zwischen Birken und anderen Bäumen bei schmalster Kost dahinvegetierten, bis sie an Auszehrung oder Schlägen starben: Vernichtung durch Arbeit, wie es die Nazis nannten. Ob sie Hoffnungen gehabt haben können, dieses Grauen irgendwie zu überleben und ihre Lieben wiederzusehen? Oder ahnten sie, dass auf sie nur der Tod wartete?

 

Die Sonne schien, doch es wurde mir kalt. Ein Dreivierteljahrhundert ist das alles her. Aber die Vergangenheit lässt uns, lässt mich nicht los. In der Nähe gingen Spaziergänger mit Hunden und Kindern vorbei, fröhlich lachend. Mir krampfte sich das Herz zusammen. Mein Vater war Nazi und Wehrmachtssoldat. Er hat an vielen Fronten des Zweiten Weltkriegs gekämpft, in Belgien, Frankreich, Italien. In Norwegen war er Besatzer. Ich habe noch Fotos, die ihn dort mit nacktem Oberkörper und blonden Frauen zeigen, im Kreis von Kameraden. Er war auch in Polen im Einsatz. Ob er an Deportationen und der Ermordung von Juden beteiligt war? Ich weiß es nicht. Er hat wie die meisten seiner Tätergeneration mit uns Kindern nie darüber gesprochen. Doch seine dunkle Geschichte, meine Familiengeschichte, belastet mich bis heute. Mein Patenonkel, dessen Name ich trage, war U-Boot-Kommandant. Nach der deutschen Wiederbewaffnung und Gründung der Bundeswehr kurz vor meinem Geburtsjahr setzte er seine militärische Karriere im Bundesverteidigungsministerium pro­blemlos fort.

 

Ich bleibe, mit jetzt 63 Jahren, ein Kriegskind. Die NS-Zeit, der Holocaust überschatten auch mein Leben. Eine zufällige Begegnung mit diesem dunkelsten Teil der deutschen Geschichte wie bei diesem Sparziergang, mit dem Schicksal von Opfern der Shoah, weckt das alles wieder in mir.
Mit 19 war ich für einige Wochen mit einer katholischen Jugendgruppe in einem Kibbuz. Die Kibbuzim waren großteils Überlebende aus Osteuropa mit biblischen Namen: Nathan, Abraham, Isaac. Wir waren die erste Gruppe junger Erwachsener aus Nachkriegsdeutschland, die in den Kibbuz durften. Mir war beklommen zumute. Ich spürte die schwere Schuld, auch wenn sie nicht meine ist. In einem Bus sprach uns eine ältere jüdische Frau in rostigem Deutsch an. Sie habe seit der Flucht aus Nazi-Deutschland nach Palästina nie wieder ihre Muttersprache benutzt, sagte sie mit stockender Stimme. „Aber ihr seid eine andere, neue Generation. Willkommen in Israel!“ Es fühlte sich für mich wie eine Absolution an. Ein Stück Befreiung von der Last auch durch meinen Vater.

 

An all das muss ich immer denken, wenn ich von der stetigen Zunahme antisemitischer Gewalt höre und lese. Hört der Hass auf Juden nie auf? Aber genauso, wenn ich erfreut sehe, wie durch den Zuzug hunderttausender Juden aus der ehemaligen Sowjetunion wieder jüdisches Leben bei uns sprießt. Haben die Heutigen überhaupt eine Vorstellung, was uns durch den Holocaust auch an reicher jüdischer Kultur, Musik, Literatur und Intelligenz geraubt wurde?

 

Vor wenigen Tagen war ich in einem Konzert jüdischer Musiker aus Russland und der Ukraine, die seit etlichen Jahren in Hamburg und Berlin leben. Sie spielten und sangen fröhliche jiddische Klezmer-Weisen aus der untergegangenen, zerstörten Welt der multikulturellen Schtetl in Osteuropa. Wie können Altnazis, Neonazis, Fremdenfeinde und zugewanderte Antisemiten aus dem arabisch-muslimischen Raum Menschen angreifen, die nichts anderes tun als wir und sie: ihre Kultur, ihre Religion leben, im Land der Täter, und uns damit beschenken? Nur weil sie Juden sind!

 

Ludwig Greven
Ludwig Greven ist freier Journalist und Autor.
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