Neulich saß ich in einem Jazzclub in Shanghai. Vier europäische Musiker spielten klassischen Jazz. Erstaunlich war das Publikum. In Europa wäre ein Publikum 60+ zu erwarten gewesen. Hier waren es junge Shanghaierinnen und Shanghaier um die 20 Jahre, sehr gut gekleidet, modisch teils in Anlehnung an die 1920er und 1930er Jahre. „Mondän“ wäre eine gute Charakteristik des Umfelds gewesen. Der Jazz wurde dadurch zur Ausdrucksform einer westlichen, intellektuellen Lebenswelt mit nostalgischen Zügen, die durch die Wiederentdeckung der Jugend zugleich „cool“ und „hip“ wirkte, mit leicht kritischen politischen Untertönen aufgrund des Exports einer westlichen künstlerischen Ausdrucksform in ein asiatisches, kommunistisches Land.
Ein Fazit dieser Betrachtung: Künstlerinnen und Künstler und die „Künste“ in anderen historischen, sozialen und räumlichen Kontexten – sei es als Exportschlager oder im Exil – verändern sich in ihrer Bewertung und Wahrnehmung. So wird Kunst von Künstlerinnen und Künstlern im Exil im Aufnahmeland oft fokussiert auf die politische Situation ihrer Herkunftsländer. Eine veränderte Wahrnehmung kann auch im Herkunftsland beobachtet werden, beispielsweise in der Exilliteraturforschung des Nationalsozialismus, wo diese im Nachgang als „Bewahrer und rechtmäßige Erben der ‚eigentlichen‘ deutschen Kultur gehandelt“ wurden.
Ein Phänomen nicht nur von im Exil lebender Künstlerinnen und Künstler, sondern Migrantinnen und Migranten allgemein, ist das stärkere Festhalten an kulturellen Ausdrucksformen des Herkunftslandes, wie sich dies im Bild des nach Amerika migrierten Deutschen, der Sauerkraut isst und deutsches Bier trinkt, manifestiert. Das Empfinden des Verlustes des Heimatlands, gepaart mit dem Verlust gemeinsamer kultureller Kontexte, führen zu einer Neubewertung der im Herkunftsland praktizierten Kulturtraditionen. Dies kann aktuell auch bei nicht migrierten rechtspopulistischen Bevölkerungsgruppen, die unzufrieden sind mit gesellschaftlichen Entwicklungen im eigenen Land und/oder Angst vor Veränderungen haben, beobachtet werden. Das Festhalten an nationalen Kulturtraditionen und Künstlerinnen und Künstlern wird hier sogar gezielt zur Abgrenzung gegenüber anderen ethnischen Gruppen genutzt.
Bei Künstlerinnen und Künstlern im Exil kann aber auch eine Weiterentwicklung künstlerischer Ausdrucksformen in Richtung einer Akkulturation, z. B. eine soziale und kulturelle Integration in das Aufnahmeland, beobachtet werden, die neue Lesarten der Rezeption von Exilkunst ermöglichen, so die „Ausbildung interkultureller Identitäten“ und transkultureller Aspekte. Solche Perspektiven können letztlich auch bei Kunstwerken und Künstlerinnen und Künstlern eingenommen werden, die nicht migriert sind, so beispielsweise die Betrachtung klassischer historischer Bauten in Deutschland unter dem Blickwinkel islamischer Einflüsse.
Die Wahrnehmung und Verortung von Kunst kann also sehr unterschiedlich erfolgen, bezogen auf Herkunft, politische, kulturhistorische Kontexte, stilistisch innerhalb eines Kulturkanons oder auch innerhalb verschiedener Kulturkanons. Schafft es Kulturvermittlung, Rezipientinnen und Rezipienten für verschiedene Wahrnehmungskontexte zu öffnen, wirkt dies Tendenzen entgegen, sich mithilfe künstlerischer Ausdrucksformen abzugrenzen. Der Kunsthistoriker und Psychoanalytiker Ernst Kris vertritt die These, dass „genau wie der Künstler ein Kunstwerk schaffe“, der „Betrachter es erneut erschaffe“. Es gilt also, die Fantasie des Betrachters nicht einzuengen und zu begrenzen auf einzelne Aspekte wie den Exilstatus, sondern den Blickwinkel zu weiten.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/2019.