Skandal mit Ansage

Antisemitismus bei der documenta fifteen

Es hätte doch so schön sein können: eine documenta fifteen ohne jeden Antisemitismus. Eine documenta fifteen, die unter Beweis stellt, dass alle Warnungen, die im Vorfeld lautstark geäußert wurden, wahrgenommen wurden, sich mit ihnen auseinandergesetzt wurde und dass Antisemitismus bei der documenta fifteen tatsächlich keine Rolle spielt. Eine documenta fifteen mit spannender Kunst, die so in Deutschland bislang nicht zu sehen war. Eine documenta fifteen, die zu Debatten über Kunst, künstlerische Ausdrucksformen und Positionen einlädt.

 

Doch so schön war und ist es nicht! Eigentlich ist es kaum zu fassen, monatelang wurde davor gewarnt, dass antisemitische Kunstwerke in Kassel gezeigt werden könnten. Monatelang wurde die Warnung ausgesprochen, dass die Auseinandersetzung mit Kolonialismus und Postkolonialismus die Erinnerung an die Shoah und vor allem den gegenwärtigen Antisemitismus nicht überdecken, verdrängen oder ablösen darf. Monatelang wurde der Dialog angeboten. Vergeblich.

 

Vergeblich auch die klaren Worte, die im Zusammenhang mit der Veranstaltungsreihe „We need to talk“ gefunden wurden. Gerade diese Veranstaltungsreihe sollte die Gelegenheit bieten, sich mit dem Komplex Erinnerung an die Shoah, Antisemitismus heute und Bearbeitung von Kolonialismus und Postkolonialismus auseinanderzusetzen. Nachdem der Zentralrat der Juden moniert hatte, dass er in die Gespräche nicht eingebunden werden sollte, wurde dieser Fehler nicht korrigiert, sondern die Diskussionsreihe kurzerhand einfach abgesagt.

 

Dann zur Eröffnung die klaren Worte von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Er sagte unter anderem: „Kunst darf anstößig sein, sie soll Debatten auslösen. Mehr noch: Die Freiheit der Meinung und die Freiheit der Kunst sind Wesenskern unserer Verfassung. Kritik an israelischer Politik ist erlaubt. Doch wo Kritik an Israel umschlägt in die Infragestellung seiner Existenz, ist die Grenze überschritten.“ Und weiter: „Daher wende ich mich heute auch an die Geschäftsführung und an die Gesellschafter der documenta. Es gehört zum Prinzip dieser Weltkunstschau, dass jede Ausstellung unabhängig kuratiert wird. Das weiß ich. Und die enorme Bedeutung der documenta als das Forum der globalen Kunstgemeinde hat ganz sicher auch mit der großen künstlerischen Freiheit zu tun, die jede Kuratorin, jeder Kurator  – oder wie in diesem Jahr das kuratierende Kollektiv – genießen. Aber: Die Verantwortung bleibt ja. Verantwortung lässt sich nicht outsourcen.“

 

Dann zwei Tage nach der Eröffnung der documenta fifteen der „Knaller“. An einem prominenten Platz wurde das großformatige Banner des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Dieses Banner, das den Freiheitskampf gegen den indonesischen Diktatur Suharto zeigen soll, lebt unter anderem von antisemitischen Klischees. Gierige Juden, karikierend mit Schläfenlocken, blutunterlaufenen Augen und Hakennase dargestellt, gehören zu den Blutsaugern dieser Welt. Dieses Banner arbeitet mit einer Bildsprache, die an den „Stürmer“ erinnert. Als wäre dies alles nicht schon schlimm genug, wird sich, als der Protest immer lauter wurde, lau entschuldigt, dass nicht die Gefühle anderer Menschen verletzt werden sollten. Geht es noch, möchte man dem Künstlerkollektiv Taring Padi zurufen. Es geht nicht um Verletzung von Gefühlen. Es geht auch nicht darum, dass das Banner bereits in anderen Ausstellungen unbeanstandet gezeigt wurde. Antisemitismus ist nicht hinnehmbar, egal ob er von einem indonesischen Künstlerkollektiv oder von Extremisten in Deutschland verbreitet wird. Beim Banner wird die Grenze der Kunstfreiheit überschritten, wie der Anwalt Peter Raue in der Süddeutschen Zeitung schreibt. Aus seiner Sicht wird „in Gänze und ohne Zweifel der (…) Tatbestand der Volksverhetzung nach § 130 StGB erfüllt“ und deswegen kann sich nicht auf die „verfassungsrechtliche Garantie der Kunstfreiheit“ berufen werden. Das Banner ist zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Beitrags nicht mehr in Kassel zu sehen. Es wurde zunächst verhängt und dann abgehängt.

 

Kulturstaatsministerin Claudia Roth reagierte auf den Antisemitismus bei der documenta am 23. Juni 2022 mit einem Fünf-Punkte-Plan, der unter anderem vorsieht:

 

  • die lückenlose Aufklärung durch die documenta-Geschäftsführung und das Kuratoren-Kollektiv, wie es überhaupt zur Ausstellung des antisemitischen Banners kommen konnte sowie die Sicherstellung, dass keine weiteren antisemitischen Werke zu sehen sind; dabei soll auch die Expertise des Zentralrats der Juden in Deutschland genutzt werden,
  • die Klärung der Verantwortlichkeiten von documenta-Geschäftsführung, Kuratorinnen und Kuratoren sowie Aufsichtsratsvorsitzenden und weiteren Gremienmitgliedern; dazu gehört auch die Darlegung, ob die Verantwortlichkeiten in Codes of Conduct vereinbart und klar abgegrenzt waren,
  • die zwingende Verbindung einer künftigen finanziellen Förderung der documenta durch den Bund an eine unmittelbare Einbindung in
    die Strukturen der documenta,
  • die Durchführung einer grundlegenden Strukturreform der
    documenta,
  • die Einbindung internationaler Expertise sowie der Pluralität der deutschen Gesellschaft in die Aufsicht der documenta; der Zentralrat der Juden wird hier als einzubindender Partner ausdrücklich erwähnt.

 

Der Fünf-Punkte-Plan von Kulturstaatsministerin Roth ist eine klare Ansage an die Gesellschafter und die Geschäftsführung der documenta, so wird es nicht weitergehen. An einer documenta mit den bisherigen Strukturen wird sich der Bund nicht mehr finanziell beteiligen. Die Strukturreform ist in die Zukunft gerichtet. Aktuell, auch daran lässt der Fünf-Punkte-Plan von Roth keinen Zweifel, geht es darum, die Ausstellung zu sichten und zu durchforsten, ob noch andere antisemitische Arbeiten zu sehen sind.

 

Es braucht mehr Vermutlich wird in einigen Wochen die Aufregung um die documenta fifteen abebben. Neue Katastrophen werden die Zeitungsspalten, Nachrichten und Social-Media-Kanäle fluten. Das darf aber nicht dazu führen, sich nicht mit dem Kernproblem der documenta fifteen auseinanderzusetzen. Die Findungskommission hatte sich bewusst für das indonesische Künstlerkollektiv ruangrupa entschieden. Künstlerinnen und Künstler, aber vor allem auch Aktivistinnen und Aktivisten aus dem Globalen Süden sollten zu Wort kommen. Ruangrupa hat die documenta-Geschäftsführung und auch Öffentlichkeit über seine Arbeitsweise nicht im Dunkeln gelassen. Es wurde offen ausgesprochen, dass ihre Freunde dort ihre Arbeit zeigen sollten. Indem Künstlerinnen und Künstler aus der Westbank eingeladen wurden, wurde ein klares Statement gemacht. Und dabei geht es nicht darum, ob ggf. auch jüdische Künstlerinnen und Künstler ausstellen, die nicht in Israel leben. Es geht vielmehr um ein antizionistisches und antiisraelisches Statement. Dies alles war lange vor der Eröffnung der documenta fifteen bekannt. Wie dann, ohne die Werke vorher zu sichten, vollmundig vonseiten der documenta-Geschäftsführung zugesichert werden konnte, dass keine antisemitischen Werke zu sehen sein werden, bleibt schleierhaft. Zumindest zeugt es von erheblicher Naivität.

 

Das documenta-Desaster sollte Anlass zu einer selbstkritischen Diskussion im Kulturbetrieb sein, inwiefern latenter Antisemitismus oder zumindest Antizionismus zum Selbstverständnis von Teilen des Kulturbetriebs gehört. Immer öfter ist zu hören, dass doch genug an die Opfer der Shoah gedacht worden sein, jetzt seien endlich andere Opfergruppen dran. Vielen Unterstützern dieser These, scheint nicht klar zu sein, dass diese Haltung der Schlussstrichdebatte aus dem rechtsextremen Lager ähnelt.

 

Wir sind fest davon überzeugt, dass die europäischen Staaten und vor allem die Kulturinstitutionen in Europa sich viel stärker als bislang üblich mit der kolonialen Vergangenheit auseinandersetzen müssen. Essenziell ist weiter, sich mit dem zeitgenössischen künstlerischen Schaffen in anderen Weltregionen zu befassen, es – wie in der Vergangenheit bereits geschehen – auch bei Weltausstellungen wie der documenta zu präsentieren. Zur Kunst gehören der Streit und die Auseinandersetzung um gelungene oder misslungene Werke, um das, was gefällt, und jenes, was missfällt. Weltausstellungen wie die documenta leben von diesem Diskurs – Beispiele hierzu gibt es in der Vergangenheit genug. Antisemitismus hat allerdings in der Kunst keinen Platz. Antisemitismus ist keine Meinung, sondern diskreditiert Juden, weil sie Juden sind. Das ist nirgendwo hinnehmbar und im Kulturbereich schon gar nicht.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 07-8/22.

Olaf Zimmermann & Gabriele Schulz
Olaf Zimmermann ist Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates. Gabriele Schulz ist Stellvertretende Geschäftsführerin des Deutschen Kulturrates.
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