Pipelines

Die kulturelle Dimension der Digitalisierung und die gesellschaftlichen Auswirkungen eines digitalen Kapitalismus

Im Herbst 1997 führte der Deutsche Kulturrat mit Unterstützung verschiedener Verwertungsgesellschaften in der Bundeskunsthalle in Bonn eine Tagung zu „Multimedia und Kultur“ durch. Im Mittelpunkt stand die Frage, mit welchen Inhalten die künftig entstehenden Netze gefüllt werden sollen und welche Chancen dies Künstlerinnen und Künstler bietet, mit der Verbreitung ihrer Werke Geld zu verdienen. Zum Zeitpunkt der Tagung, also Herbst 1997, war das Internet noch sehr langsam. Es konnten nur Texte verbreitet werden. Es zeichnete sich ab, dass eventuell irgendwann einmal Bilder und Töne übertragen werden könnten. Die Übertragung von Filmen war ferne Zukunftsmusik, die irgendwann einmal möglich sein würde.

 

Überlegt wurde bei der Tagung wie Künstlerinnen und Künstler an der neu entstehenden Wertschöpfung partizipieren können. Diskutiert wurde vor allem die Frage einer angemessenen Vergütung. Grundlage der Debatte war dabei die analoge Welt, die darauf basierte, dass die Verwerter künstlerischer Werke die Nutzung vergüten. Diese Vergütungspflicht an sich war überhaupt nicht streitig, es ging allerdings darum, ob die Vergütung angemessen ist und inwiefern bei wirtschaftlichem Erfolg eines Werkes eine Nachvergütung erfolgen muss. Weder die Verwerter künstlerischer Leistungen, bei der Tagung vertreten durch den damaligen Vorsitzenden des Bundesverbandes der phonographischen Wirtschaft, heute Bundesverband Musikindustrie, Thomas Stein, noch die Künstlerinnen und Künstler ließen irgendeinen Zweifel am Grundsatz, dass eine Vergütung erfolgen muss. Dass ein Geschäftsmodell darauf basieren kann, dass auf eine Entlohnung verzichtet wird und als Gegenleistung Bekanntheit angeboten wird, war zu diesem Zeitpunkt kaum vorstellbar.

 

Dies hat sich grundlegend verändert. Zunächst fand eine technische Explosion statt. Texte, Töne, Bilder, Filme sind heute selbstverständlich online zugänglich. Ehemalige Mobiltelefone, die ersten Exemplare waren noch groß und schwer wie ein Brikett und dienten zum Telefonieren außer Haus, wurden zu Smartphones, die für alles Mögliche nützlich sind, unter anderem auch zum Telefonieren. Filme werden ebenso selbstverständlich auf Smartphones gehört wie Musik, Bilder werden getauscht und wer den Weg von A nach B nicht weiß, nutzt keinen Stadtplan, sondern lässt sich kinderleicht von seinem Smartphone führen. Als Hemmnis für die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland wird der langsame Ausbau von Breitband ausgemacht und in der Bundesregierung wird allenfalls darüber gesprochen, ob der neue Standard 5G an jeder Milchkanne verfügbar sein muss oder nicht.

 

Grundlegend geändert hat sich die Auffassung, ob Künstlerinnen und Künstler einen ökonomischen Ertrag aus der Verwertung ihrer künstlerischen Leistungen ziehen können müssen. In den mehr als 20 Jahren seit der erwähnten Tagung in Bonn wurde unter anderem über Musikpiraterie gesprochen und als eine Lösung debattiert, eine Kulturflatrate einzuführen, die es ermöglichen sollte, mittels eines kleinen Obolus so viel Musik wie gewünscht zu hören. Eine Partei, Die Piraten, zog mit dem Versprechen, den kostenfreien Zugang zu Inhalten weltweit zu ermöglichen, in diverse Landesparlamente und in das Europäische Parlament ein. Zur Finanzierung von Künstlerinnen und Künstlern sollte ein bedingungsloses Grundeinkommen eingeführt werden. Die Zeitungsverleger in Deutschland legten sich für die Einführung eines Presseleistungsschutzrechts krumm. Google scherte sich herzlich wenig darum und kündigte an, Zeitungsinhalte, für die eine Abgabe zu zahlen wäre, nicht mehr zu listen. Das führte dazu, dass die großen Verlage einknickten und das deutsche Presseleistungsschutzrecht letztlich ins Leere läuft. Nach der Musikindustrie, die als erste davon betroffen war, dass die Netze, also die neuen Pipelines, mit attraktiven Inhalten gefüllt sein müssen und die nach Kampagnen, Schutzfiltern und anderem mehr nun auf digitale Verbreitungswege und Online-Portale setzen, war die Filmindustrie als nächste Branche von der digitalen Veränderung umfassend betroffen. Finanzierungsmodelle, die darauf aufbauen, dass ein Film in verschiedenen Ländern ausgewertet wird und dafür jeweils Lizenzen erforderlich sind, funktionieren nicht, wenn die Nutzerinnen und Nutzer erwarten, jederzeit und an jedem Ort auf ein ganzes Portfolio an Filmen zugreifen zu können. Dabei geht es gar nicht in erster Linie um illegale Kopien, als vielmehr um die Zugänglichmachung von Filmen im Ausland.

 

Ökonomisch genutzt hat die Digitalisierung, die Verbreitung und die Nutzung von Inhalten im Internet bisher vor allem US-amerikanischen Konzernen. Hier fand ein erheblicher Konzentrationsprozess statt, sodass Google und Facebook mit ihren diversen Unterfirmen eine marktbeherrschende Stellung haben und dies nicht nur in Nordamerika, sondern auch in Europa und vielen anderen Weltregionen. Sie verdienen sich die sprichwörtliche goldene Nase. Ihnen gehören die Pipelines. Das Öl oder das Gold, das durch die Pipelines rauscht, d. h. die Inhalte bzw. der Content, braucht ihnen nicht zu gehören. Es fließt auch so. Die Pipelines, der Verteilmechanismus, die Zugänglichmachung sind das Entscheidende.

 

Damit rührt die Digitalisierung auch an den Grundfesten des Kapitalismus. Nicht mehr die Produktionsmittel sind das Entscheidende, sondern die Infrastruktur zur Verteilung und Verbreitung von Gütern und Dienstleistungen. Diese Infrastruktur ist nicht etwa wie Straßen im öffentlichen, sondern im privaten Besitz. Der private Besitz der Pipelines hindert die Unternehmen aber nicht daran, sich so zu gerieren als würden sie ein öffentliches Gut zur Verfügung stellen.

Einige Zeit wurde darüber gesprochen, dass das Urheberrecht das Marktordnungsrecht der digitalen Welt sei. Lang und breit wurde und wird über Veränderungen des Urheberrechts debattiert. Dabei standen und stehen sich nahezu unversöhnlich unterschiedliche Gruppen gegenüber. Auf der einen Seite sind diejenigen zu finden, die für eine faire Vergütung der Künstlerinnen und Künstler eintreten, also die Künstler selbst und die Unternehmen der Kulturwirtschaft. Auf der anderen diejenigen, die aufgrund eines öffentlichen Auftrags möglichst viele Inhalte umfassend, kostenfrei zugänglich machen wollen, wie Bibliotheken. Und dann gibt es noch Internetunternehmen und ihre Verbände, die meinen, dass Bekanntheit für Künstler ausreiche, den Kühlschrank zu füllen.

 

So richtig hoch kochten die Emotionen bei den Trilogverhandlungen zur EU-Richtlinie zum Urheberrecht im digitalen Binnenmarkt. Der von der Kommission vorgelegte Richtlinienvorschlag wurde sowohl vom Europäischen Rat als auch dem Europäischen Parlament an einzelnen Artikeln geändert. Seit der zweiten Jahreshälfte 2018 fanden die sogenannten Trilogverhandlungen statt, in denen sich Kommission, Parlament und Rat auf gemeinsame Formulierungen verständigen müssen. Nachdem es lange so aussah als würde es keine Einigung geben, verständigen sich Anfang Februar dieses Jahres die Verhandler auf eine gemeinsame Linie. Wenn nun die Institutionen, Parlament, Rat und Kommission, zustimmen, kann noch vor der Wahl des neuen Europäischen Parlaments und der Einsetzung einer neuen Kommission die Richtlinie verabschiedet werden. Damit würde die Richtlinie Urheberrecht in der Informationsgesellschaft aus dem Jahr 2001 abgelöst werden. Angesichts der oben beschriebenen technischen Entwicklung ist eine Aktualisierung der europäischen Urheberrechtsgesetzgebung bitter nötig. Sie bildet die Grundlage für den nationalen Gesetzgeber. Die Debatten werden also in Deutschland im nationalen Umsetzungsprozess fortgesetzt.

 

Im aktuellen Richtlinienentwurf werden diverse Aspekte angesprochen, es geht unter anderem um Schrankenregeln und die Nutzung von Werken für Unterrichts- und wissenschaftliche Zwecke, um den digitalen Erhalt des Kulturerbes, um das Presseleistungsschutzrecht, um die Verlegerbeteiligung an gesetzlichen Vergütungsansprüchen, um faire Vergütung und um die Verantwortung der Plattformen für gehostete Inhalte – siehe Art. 13. Insbesondere letzterer Artikel beherrschte in den letzten Monaten die Debatte. Es ging um die Frage, ob die Position der Rechteinhaber gegenüber Online-Plattformen gestärkt werden soll, damit sie insbesondere für die zustimmungsbedürftige Nutzung ihrer Werke eine angemessene Vergütung erhalten. Online-Plattformen sollten sich nicht mehr auf die Position zurückziehen können, dass sie letztlich nur die Pipelines zur Verfügung stellen und daher keine Verantwortung für die Inhalte übernehmen können. Rechteinhaber erhoffen sich eine Schließung des sogenannten Value Gap und die Durchsetzung einer angemessenen Vergütung. Gegner der Regelung befürchten, dass die einzusetzenden Upload-Filter viel zu ungenau sind, dass sie zwischen einem rechtmäßigen Zitat und einem illegalen Upload nicht unterscheiden können und vor allem, dass die Informations- und Meinungsfreiheit massiv eingeschränkt werden. Der Branchenverband der Internetunternehmen, Bitkom, warnt davor, dass die Regelung „jungen Künstlern die Möglichkeit nehmen (wird; Anm. d. A.), das Internet als unabhängige Plattform zur Optimierung der Reichweite zu nutzen.“ Dabei wird außer Acht gelassen, dass es auch in der analogen Welt jedem Urheber unbenommen ist, seine Werke zu verschenken und ebenso in der digitalen Welt Künstlerinnen und Künstler ihre Schöpfungen frei zugänglich machen können. Sie müssen allerdings die Persönlichkeitsrechte daran haben.

 

Die Urheberrechtsdebatte ist aber nur ein Element in der Diskussion um den Umgang mit marktbeherrschenden Plattformen. Ein weiteres ist die Frage der Besteuerung. Bekanntermaßen beherrschen diese Unternehmen die Steuervermeidung perfekt. Sie sind Nutznießer des von der Allgemeinheit durch Steuermittel finanzierten Breitbandausbaus, sind selbst aber nicht bereit, ihren Anteil durch Steuerzahlungen zu leisten. Vor wenigen Wochen hat das Bundesarbeitsministerium ein Gutachten zur Künstlersozialabgabepflicht von Online-Plattformen vorgelegt. Hier wird aufgezeigt, dass unter bestimmten Voraussetzungen wie bei anderen Verwertern künstlerischer oder publizistischer Leistungen auch bei Online-Plattformen eine Künstlersozialabgabepflicht entstehen kann. Es bleibt mit Spannung abzuwarten, wie eine Abgabepflicht durchgesetzt werden kann.

 

Der Sprecherrat des Deutschen Kulturrates hat für die Amtszeit 2019 bis 2021 einen Fachausschuss Digitales und Künstliche Intelligenz eingesetzt. Die Zusammensetzung dieses Ausschusses wird im März 2019 beschlossen. Wichtige Themen dieses Ausschusses werden die kulturelle Dimension der Digitalisierung, aber auch die gesellschaftlichen Auswirkungen eines digitalen Kapitalismus sein. Wir freuen uns auf die Debatten.

Olaf Zimmermann & Gabriele Schulz
Olaf Zimmermann ist Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates. Gabriele Schulz ist Stellvertretende Geschäftsführerin des Deutschen Kulturrates.
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