Migrantentagebuch, fünfter Eintrag: Mythen oder Zufälle

Gefangen zwischen Ängsten und Hoffnungen

Wie wäre es denn, wenn wir die Zufälle unseres Lebens, die uns hierherbrachten, fangen, und die Angst, die uns während der gesamten Reise begleitet, anfassen können? Würde dann Gerechtigkeit erreicht oder das Bild der Welt komplizierter werden? Trotz meiner Ängste vor offenen Wunden, die durch Mythen und Zufälle entstehen und hinter allen alltäglichen Szenen, Gedanken und Gefühlen verschwinden, verlor ich nie die Hoffnung, das gestörte Schwarz-Weiß-Gemälde meiner Reise wieder ins Gleichgewicht bringen zu können.

 

Mythen

 

Eines Tages trafen sich einige Männer des Nordens gemeinsam, um die Kriege gegen einander zu beenden, die ihre Völker verwüsteten. Sie nahmen die Aufteilung der Welt unter einander vor, als ob sie die Inhaber der Welt wären. Sie zeichneten auf die Karte der Welt verschiedene Linien, um das jeweilige Eigentum zu sichern. Im Laufe der Zeit verwandelten sich die einfachen Linien in hohe Mauern, die zwei Gruppen von Menschen voneinander trennten.

 

Die erste Gruppe blieb freiwillig im Norden und zwang die zweite Gruppe, im Süden unter ihrer Autorität zu leben. Die Gruppe im Süden konnte sich nicht frei bewegen, sie musste dafür Einwilligungen vom Norden einholen. Deshalb versuchten manche zu fliehen, um ihr Recht auf Leben wahrzunehmen. Dagegen erfanden die Menschen im Norden die Flughäfen, Stacheldraht, Einreisestempel und zeichneten klare Grenzen. Bewaffnete Soldaten stehen Wache, um sie zu verteidigen.

 

Das Hauptgesetz des Mythos lautet: „Die Menschen aus dem Süden müssen einige Jahre ihrer Lebenszeit für die Menschen im Norden spenden“, da sie bedrängt wurden, ihre Grenzen zu »schützen«, um das Verstoßen der „Ausländer“ gegen das Gesetz des Mythos zu verhindern sowie um Epidemien und Krankheiten einzugrenzen.

 

Er starb früh

 

Gestern sprach ich mit ihm. Er versprach mir, auf mich zu warten. Er war weit weg und dennoch sehr nah. Trotz der Entfernung spürte ich den Puls des Lebens in ihm. Mich berührte sein Wunsch nach Begegnung und seine Angst vor Abwesenheit. Ich erzählte ihm von seinem besonderen Stellenwert in meinem Herzen sowie von meinem starken Verlangen nach seiner Präsenz in unserer Welt. Ich wiederholte: Er solle warten, bis das Leben uns wieder zusammenbringen würde! Und ich betonte, dass unser Treffen im letzten Jahr niemals unser letztes sein könne. Vielleicht machte ich mir etwas vor, als ich dachte, dass der Tod eine individuelle Entscheidung sei. Vielleicht könnte die Selbsttäuschung meine Ängste reduzieren.

 

Nachts ging ich schlafen, Bilder von ihm und gemischte Gefühle verfolgten mich sowie Fragezeichen nach dem Wort „Tod“. Ich sah ihn wieder in meinen Träumen, als er langsam auf mich zukam, um Abschied von mir zu nehmen. Möglicherweise gab er auf oder schlief lange und wachte niemals auf. Vielleicht war sein Tod kein reiner Zufall, sondern eine vorherige Entscheidung des Mythos, der unser Leben kommandiert.

 

Zufall des Überlebens

 

Warum variiert das Durchschnittsalter der Menschen je nach Standort auf unserem Planeten? Vielleicht müssen wir in all den Todesfällen unserer geliebten Menschen neu umdenken. Wenn er im Norden geboren wäre, hätte er vielleicht länger gelebt! Wenn der Zufall ihm half, in einem anderen Land zu leben, wäre er noch am Leben! Der Tod im Süden ist zu einer alltäglichen Sache geworden. Es gibt dort keine Sicherheit, weder für junge Menschen noch für alte. Das Überleben ist der einzige Zufall, den die Menschen dort haben. Wenn sie zufällig Glück hätten und nicht im Krieg gefangen oder an Hungersnot gestorben wären, wäre es möglich, aus anderem Grund zu sterben: in Bränden, wegen Mangel an medizinischer Versorgung oder im Gefängnis durch Folter. Wenn sie um ihr Leben kämpfen und vom Tod fliehen, würden sie möglicherweise an der Grenze zum Norden erschossen werden oder in einem kleinen Boot auf dem Meer ertrinken.

 

Zur gleichen Zeit beschäftigten sich die Herrscher des Südens mit Waffenverträgen mit den Führern des Nordens und als Gegenleistung versprechen sie ihnen, die Grenze für sie zu „schützen“, Geflüchtete aufzuhalten und „Südmenschen“ in ihren Heimatländern festzuhalten. Der Tod wäre dann das Gegenteil von Überleben: kein Zufall, sondern ein Gesetz des Mythos.

 

Vorwurf

 

Mein deutscher Freund, der aus Angst vor Unfällen nicht über die Grenzen seines Heimatlandes hinausging, warf mir meinen Verstoß gegen Gesetze des Mythos vor und versicherte mir immer, dass meine Abreise aus meinem Herkunftsland der einzige Grund für alle meine Schmerzen sei. Ich sagte zu ihm: »Es ist nicht so einfach, mein Freund, kannst du dir ein Leben unter der Gefahr von Tod, Hunger oder Gefangenschaft vorstellen? Es nur auf Ängste reduzieren? Kannst du für immer stumm leben? Und dich jeden Augenblick mit zu viel Armut, Tod und menschlichen Schmerzen konfrontieren? Vielleicht hat er recht, ich beging die größte Sünde, als ich die Grenze überschritt und das Wohlleben der Menschen im Norden „gefährdet“ habe. Für mich war alles ein Versuch, meiner Angst ein Ende zu setzen, aber leider kamen neue Ängste: die Angst vor dem zufälligen Tod, ohne die Möglichkeit zu haben, Abschied zu nehmen, sowie die Angst, daran zu glauben, dass alles in meinem Leben nur aus Zufällen entstanden wäre!

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2019.

 

 

Marwa Abidou
Marwa Abidou ist Theaterwissenschaftlerin mit zwei Doktorgraden im Fachbereich der Theaterwissenschaften und Performing Arts.
Vorheriger ArtikelPipelines
Nächster ArtikelJeder/m/xy seine Schublade