Kunstfreiheit im Fadenkreuz von Macht und Moral

Von Gatekeepern, Kunstrichtertum und notwendigen Veränderungen

Auf dem Integrationsgipfel fragte die Bundeskanzlerin den Schauspieler Tyron Ricketts, Wahl-Berliner und Sohn einer Österreicherin und eines Jamaikaners, ob er denn nun endlich einmal die Rolle eines Bürgermeisters spielen durfte? Die Frage knüpfte an Machtrealitäten in deutschen Filmdrehbüchern an. So gab es eine Zeit, wo Frauen auf der Bühne keine Frauen, People of Colour keine People of Colour spielen durften. Und auch heute ist es beispielsweise gängige Praxis, dass Menschen mit Behinderung in Filmen in der Regel von Menschen ohne Behinderung gespielt werden. So sind Film und Schauspiel ein Spiegel der Machtverhältnisse unserer Gesellschaft. Umso wichtiger ist es, solche Machtverhältnisse zu hinterfragen – und hier nicht nur bezogen auf Fiktion, sondern zugleich bezogen auf öffentliche Förderstrukturen.

 

Dies ist jedoch gar nicht so einfach, denn gemäß der Kunstfreiheit, ist nicht der Staat für das „Kunstrichtertum“ verantwortlich. Entscheidungen über Sichtbarkeit und damit auch Zugänge zu öffentlicher Kulturförderung werden fachlich professionell von entsprechenden Organisationen, wie öffentlicher Rundfunk, Museen oder Theatern entschieden. Kritiker verweisen dabei zu Recht auf die aktuell sehr einseitige Repräsentanz spezifischer Bevölkerungsgruppen innerhalb dieser Gatekeeper-Gruppen hin, die nicht die Heterogenität des gesellschaftlichen Wandels abbilden. Und Änderungsprozesse können lange dauern, das hat die Frauenbewegung gezeigt. Selbst heute, wo mehr Frauen als Männer in den Kulturwissenschaften studieren, sind Entscheiderstrukturen, wie Professuren, Direktionen etc. immer noch eher männlich statt weiblich besetzt. Kaum repräsentiert sind dabei People of Colour. Entsprechend gibt es Ungeduld und den Versuch, schon jetzt eine Umverteilung von Macht in Angriff zu nehmen und dabei auch bestehende Fachstrukturen in Frage zu stellen!

 

Und ja, auch fachliche Perspektiven können Ungleichheiten verfestigen, wie die Postkolonialismus-Debatte zeigt! Wenn in unseren Geschichtsbüchern von der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus gesprochen wird, wird vollkommen ausgeblendet, dass dort schon vor Kolumbus Menschen lebten und damit auch die Rechte der Ureinwohner. In der Tat: Kunst und kulturelles Erbe stecken voller Interpretationsspielräume. Daher ist es wichtig, dahinterstehende Machtkonstellationen aufzudecken. Kritisch wird es jedoch, wenn aufgrund eines bestehenden Unrechts mit Verweis auf moralische Machtansprüche Meinungs-, Wissenschafts- und Kunstfreiheit eingeschränkt werden. Ist es nicht ebenso ein Unrecht, wie Tyron Ricketts spezielle Rollen zu verwehren, einem weißhäutigen Soziologen aufgrund seiner Herkunft das Recht auf eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Migration und Diversität an einer Hochschule oder der niederländischen Übersetzerin Marieke Lucas Rijneveld das Recht auf Übersetzung eines Gedichts von Amanda Gorman zu verwehren?

 

Die Künste ermöglichen in ihrer schöpferischen und gestalterischen Auseinandersetzung mit Natur und Welt Perspektivwechsel und Interpretationsmöglichkeiten jenseits naturgegebener Grenzen, hier auch die von Geschlecht, Herkunft oder Beeinträchtigungen. So betont der Künstler Farhad Moshiri: „Mehrdeutigkeit ist die stärkste Waffe, die wir Künstler haben“. Oder mit den Worten von Goethe: „Die Kunst ist eine Vermittlerin des Unaussprechlichen.“ Wäre es nicht fatal, wenn wir uns diese Waffe nehmen ließen bzw. dem Unaussprechlichen im Vorfeld Grenzen setzen? Müssen nicht im Gegenteil diese Grenzen offen sein, damit in künftigen Filmen eine weiße Schauspielerin eine Imanin, ein Schauspieler mit Behinderung einen Othello und Tyron Ricketts einen deutschen Bundeskanzler spielen kann?

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 4/2021.

Susanne Keuchel
Susanne Keuchel ist ehrenamtliche Präsidentin des Deutschen Kulturrates und Hauptamtlich Direktorin der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW.
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