„Woke“

Ein Balance-Akt zwischen moralischen und demokratischen Prinzipien?

Der Literaturkritiker Ijoma Mangold sieht im Woke-Milieu die Generationsnachfolge der Hipster, die die Bedeutung der Ästhetik für die Hipster durch Moral ersetzen würde, unter den Vorzeichen von Dogmatismus und Ironiefreiheit. Die Autorin Judith Sevinç Basad kritisiert, dass weder „Gendersternchen“ noch der „Scham“ der Woke-Aktivisten für die Betroffenen wirklich etwas verändern würde. Hannes Soltau argumentiert dagegen im Tagesspiegel: „Wer die berechtigten Anliegen von Fridays for Future bis zur MeToo-Bewegung mit einem sarkastischen Label abtut, sitzt selbst darin.“

 

Dabei ist der Begriff „Woke“ schon deutlich älter als eben zitierter Feuilleton-Diskurs. Erykah Badu rappte ihn 2008. In Ferguson riefen demonstrierende Afroamerikaner „stay woke“, als Polizisten einen unbewaffneten schwarzen 18-Jährigen erschossen hatten. Und nun wird eine Generation unter diesem Begriff subsumiert.

 

Moralische Anliegen vertraten auch schon frühere Bewegungen, wie die Bürgerrechts-, Frauen- oder Friedensbewegungen. Hier richtete sich der Protest vorrangig an die Gesetzgebung oder Regierungsentscheidungen wie Gleichstellungsartikel, Abtreibungsgesetz oder Nato-Doppelbeschluss. Die Kritik der Woke-Aktivisten vollzieht sich dagegen „bottom-up“.

Kritisiert wird „unkorrektes“ Verhalten innerhalb des sozialen Umfelds, aber auch bezogen auf Buch- oder Filminhalte. Ihr Anspruch besteht darin, Gesellschaft von innen heraus zu verändern. Als Prosument haben sie im digitalen Zeitalter zudem die Möglichkeit, jederzeit innerhalb sozialer Medien in den öffentlichen Diskurs einzugreifen, sich mit Gleichgesinnten zu solidarisieren und auf Äußerungen oder Taten von Einzelpersonen, die sie als unkorrekt erachten, aufmerksam zu machen.

 

Und daran entzündet sich vielleicht viel stärker das tendenzielle Unbehagen gegenüber Woke-Aktivisten als an ihren moralischen Anliegen. Die „Wachsamkeit“ der Woke-Aktivisten – und damit ihre Protestkritik – richtet sich an jeden, der nicht „woke“ in seinen Äußerungen und Taten ist. Das heißt, dass hier ein Grundprinzip des Individualismus, jeder lebt nach seiner Fasson und daher in seinem spezifischen Milieu unter sich, aufgebrochen wird.

 

Es gibt aber noch einen weiteren Grund des Unbehagens, der konkret mit den Woke-Aktivisten gar nichts zu tun hat, sondern mit dem aktuellen Umgang mit Kritik in unserer Gesellschaft. Und möglicherweise hat auch die Individualisierung und Transparenz digitaler Medien mit dazu beigetragen, dass eine Gesellschaft zunehmend verlernt hat, mit Kritik konstruktiv und fair umzugehen.

 

Dass dies so ist, belegen rechtlich bedenkliche Phänomene wie Shitstorms oder Cancel Culture, die Gefahren für die Demokratie darstellen, hier im Zuge der Meinungs-, Wissenschafts- und Kunstfreiheit, aber auch in der Ahndung und Skandalisierung von Personen, die oft massive Konsequenzen für Betroffene haben, von Ausladungen zu Veranstaltungen bis hin zur Beendigung von Arbeits- oder Verlagsverträgen, und das, obwohl sie vor dem Gesetz keine Straftat verübt haben.

 

Die moralischen Anliegen der Woke-Aktivisten sind berechtigt, der Wunsch, eine Gesellschaft von innen heraus zu verändern, ein guter Ansatz, wobei dabei auch parallel die Veränderungen gesetzlicher Rahmenbedingungen für mehr Diversität und Nachhaltigkeit im Sinne demokratisch gelebter Aushandlungsprozesse nicht außer Acht gelassen werden sollten.

 

Angesichts der aktuellen Tendenz, den Individualismus auf den Prüfstand zu stellen und neue Formen digitaler Kommunikation, ist es jedoch dringend an der Zeit, für solche moralischen Diskurse gemeinsame Regeln für eine demokratische, analog-digitale Streitkultur zu entwickeln. Das bedeutet Debattenkultur auf Augenhöhe und einen sicheren Raum für jeden Bürger, in eine Debattenkultur einzutreten, ohne um seine berufliche oder private Existenz zu fürchten.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 5/2021.

Susanne Keuchel
Susanne Keuchel ist ehrenamtliche Präsidentin des Deutschen Kulturrates und Hauptamtlich Direktorin der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW.
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