Krieg in Europa: Die Ukraine kämpft für sich selbst

In Ostmitteleuropa ist die Nation die Zukunft – und nicht vergangene Geschichte

Also doch. Auch Deutschland will der Ukraine jetzt plötzlich schwere Waffen zukommen lassen. Der politische Druck wurde zu groß. Die deutsche Regierung und ihr schweigsamer Kanzler haben nachgeben müssen. Und wie das beim Zaudern so häufig passiert. Es war nicht der beste Zeitpunkt für eine souveräne Entscheidung – und es ist keineswegs das beste Gerät. Auch wenn die Verteidigungsministerin wieder einmal einen anderen Eindruck zu erwecken versuchte. Denn wenn das Argument von der komplizierten Bedienung solcher Waffensysteme je eines war, dann trifft es auf diesen alten Flak-Panzer Gepard zu. Die Ukraine darf also jetzt ausgemusterte Waffen kaufen. Einsatzfähig sind sie noch nicht. So muss unweigerlich der Eindruck entstehen, dass auch diese Kehrtwende wieder eine symbolische ist; dass sie dem Besuch des amerikanischen Außenamtschefs Antony Blinken in Kiew geschuldet war und dem erklärten Ziel Russland zu schwächen. Wenn man sich in Berlin noch irgendeine Hoffnung gemacht hatte, bei diesem Krieg eine eigene, aparte Rolle spielen zu können, so ist diese Illusion jetzt dahin. Über Nacht hat sich die deutsche Bundesregierung wohl oder übel eingereiht in die Phalanx der übrigen Nato-Partner. Die US-amerikanische Militärbasis Ramstein war der wohl symbolträchtigste Ort dafür.

 

Überhaupt sind schwere Waffen das Wort der Stunde geworden. Ein Land, das gerade seine Friedensdividende verfrühstückt, dekliniert jetzt täglich die Raubtierfauna seiner Panzertypen durch: Den alten Marder, der zum Inbegriff deutscher Zögerlichkeit geworden ist; oder den neuen Puma, der noch immer nicht läuft; mit dem Leopard käme der Stolz der deutschen Waffentechnologie aufs Tapet; und jetzt also noch der Gepard, der in Windeseile unser Ansehen retten soll. Aber auch die öffentliche Sprache hat sich verändert. Worte wie Feuerkraft, Geländegewinn oder Abwehrschlacht kommen uns ohne zu Zögern über die Lippen und das Lodenmantelgeschwader pensionierter Generäle führt uns die tägliche Lage vor. Der Krieg hat uns im Reden darüber längst schon erreicht. Und die Schreckensbilder aus der Ukraine, die noch vor Kurzem kaum jemand wirklich kannte, sind zum alles beherrschenden Gesprächsstoff geworden.

 

Der Osten Europas war uns doch nach den Jahrzehnten der Teilung – um ein altes Wort von Franz Xaver ­Kroetz zu benutzen – ferner als die fernste Mongolei. Wie fern, das kann man anhand einer kleinen Episode erzählen, die allerdings auch schon wieder eine Weile zurückliegt. Als im Frühjahr 2013 das Haus der Brandenburg-Preußischen Geschichte in Potsdam eine Ausstellung zur Kunst der Jagiellonen präsentierte, stellte sich der Rezensent der Zeit amüsiert die Frage, ob es sich bei den Jagiellonen um eine tropische Fruchtsorte handele, oder womöglich um einen harmlosen Virenstamm, um leichte Elementarteilchen oder eine osteuropäische Dynastie. Das war spöttisch gemeint, traf aber doch den Kern des Problems. Das Wissen um dieses frühneuzeitliche Jagiellonen-Reich, das einmal vom Baltikum bis an das Schwarze Meer reichte, ist außerhalb Polens nur noch vage vorhanden. Und als die Ausstellungsmacher mit ihrer transnationalen Sichtweise nach Krakau und Prag auch in Budapest anklopften, fragte man dort etwas verwundert, ob es sich bei den Jagiellonen wohl um jenes schwarze Loch in ihrer Geschichte handele zwischen Matthias Corvinus und den Osmanen.

 

Mir ist diese Episode wieder eingefallen als ich bei Martin Schulze Wessel, dem bekannten Osteuropa-Historiker, las, dass man die ukrainische Geschichte jetzt anders erzählen müsse. Denn die legendäre Kiewer Rus habe ihre eigentliche Fortsetzung nicht etwa in Wladimir Putin und Moskau gefunden, sondern in Galizien und Wolhynien und später noch in der Adelsrepublik Polen-Litauen. Auf diese eher nach Westen weisende Tradition könne sich die Ukraine heute berufen. Jede Zeit schreibt sich ihre Geschichte eben neu.

 

Über einem Gespräch mit dem Dirigenten aus Anlass der Deutschlandtournee des Kiewer Sinfonieorchesters stand jetzt der Satz: „Für die kulturelle Präsenz der Ukraine“. Auch das trifft das Problem sehr genau. Was wissen wir wirklich über dieses Land, seine Kultur, seine leidvolle Geschichte und die Menschen dort, die immer wieder um ihre Freiheit kämpften? Timothy Snyders berühmtes Wort von „Bloodlands“ meint zu einem nicht geringen Teil ukrainisches Land. Dass dieses Land eine eigene Literaturtradition hervorgebracht hat, eigene Maler, Dichter, Gelehrte und nicht zuletzt eine ganz eigene Moderne, ist nur den wenigen Fachleuten bekannt. Lehrstühle für Ukrainistik sind immer noch rar.

 

Die in Moskau geborene deutsche Schriftstellerin Anna Prizkau hat den ukrainischen Historiker Andrii Portnov kürzlich gefragt, was er denn zu der Behauptung sagen würde, die Ukraine gebe es erst seit 1991. Er hat ihr mit der Gegenfrage geantwortet, warum wohl die erste deutsche Übersetzung des ukrainischen Dichters Taras Schewtschenko schon 1911 in Leipzig erschienen sei. Man hat ihn den ukrainischen Goethe genannt, aber das wird seiner Bedeutung nicht wirklich gerecht. Er ist zum großen Nationaldichter der Ukraine geworden, der ausstrahlt bis in die heutige Zeit. „Mit der Verbreitung seiner Ideen“, hatte der besorgte Chef der russischen Geheimpolizei an Zar Nikolaus I. schon zu Lebzeiten Schewtschenkos gemeldet, „könnten die Ideen über die Möglichkeit des Bestehens eines eigenständigen ukrainischen Staates Wurzeln schlagen“. Und als der Sarg dieses berühmten Malers und Dichters in den ersten Maitagen des Jahres 1861 über den Dnepr von Kiew nach Kaniw geschippert wurde, war das die größte Demonstration des ukrainischen Selbstbehauptungswillens, die das Zarenreich jemals zuvor gesehen hatte. Man hat ihn am Ufer des Dnepr begraben und auf dem Taras-Berg steht heute sein Denkmal. In der Ukraine wird es als nationales Heiligtum verehrt. Nicht sehr weit davon in derselben Landschaft fand in den Januar- und Februartagen des Jahres 1944 die mörderische Kesselschlacht von Tscherkassy statt, eine der großen Panzerschlachten an der ukrainischen Front. In diesem Land liegen die Toten oft nah beisammen.

 

Es gibt Aufnahmen vom Kiewer Maidan, auf denen Bilder Schewtschenkos zu sehen sind, und der junge Serhi Nigojan, der Erste, der den Protest mit dem Leben bezahlte, soll auf den Barrikaden Verse Schewtschenkos rezitiert haben. Der Schriftsteller Juri Andruchowytsch erinnert sich, wie am 56. Tag der Proteste das große Banner mit dem Porträt Taras Schewtschenkos an der Fassade des Kiewer Rathauses heruntergelassen wurde. „Vater Taras“ ist mit uns, sollte das heißen; „er ist unser höchster geistiger Führer“. Und als der amerikanische Senator John McCain damals den Maidan besuchte, hat er Schewtschenko auf Englisch zitiert. „Love your Ukraine / Love in the hard time“. Damals hörten das, wie Andruchowytch festhält, eine Million Demonstranten.

 

Wir reden so gerne davon, dass in der Ukraine die Werte des Westens verteidigt würden. Das ist wohl wahr. Wir erleben diesen Krieg mitten im heutigen Europa. Wir sehen ein modern gewordenes Land mit modernen, der westlichen Lebensweise zugewandten Menschen. Das sind nicht mehr die Ränder einer vergessenen Welt; das sind die Lebensentwürfe von heute. Und dennoch ist da keine postnationale Gesellschaft entstanden, wie wir sie inzwischen für selbstverständlich halten. Diese heutige Ukraine kämpft nicht nur für uns, sie kämpft für sich selbst. Wir haben den Fehler nach dem Zusammenbruch des Sowjetreichs schon einmal begangen, nicht begreifen zu wollen, dass es den Völkern Ostmitteleuropas nicht nur um Freiheit und Zukunft geht, sondern auch um ihre eigene Geschichte.

 

Die Ukraine sei längst eine Nation, schreibt Schulze Wessel. Aber das kann doch niemand ernsthaft bestreiten. Auch wenn dieser Krieg die Nationwerdung der Ukrainer über alle Sprachgrenzen hinweg noch einmal entscheidend befördert hat. Es befindet sich eben nicht nur Charkiw im Krieg, sondern Lemberg ebenso wie Odessa. Und die alten historischen, im Westen so gerne erzählten Trennungslinien gelten noch bedingt, wenn sie den je wirklich gegolten haben. Die ukrainischen Panslawisten kamen im 19. Jahrhundert auch aus Galizien. Es sind die klassischen Muster des europäischen Nationenbildungsprozesse, die wir heute erleben. Und wir müssen begreifen lernen, dass die Nation in dieser Region Ostmitteleuropas eher die Zukunft ist als eine längst vergangene Geschichte. In der Ukraine zeigt sich in diesen Tagen eine Nation, die noch ganz jung ist und doch schon sehr alt. Und wir postnationalen westlichen Menschen schauen staunend dabei zu, und können es gar nicht fassen.

 

Wie schwer sich allein schon die akademische Osteuropaforschung damit tut, kann man an ihren transnationalen Forschungsstrategien sehen. Da ist von diskursiven Konstruktionen die Rede und von mesoregionalen Konzepten; die alten als unscharf gescholtenen Begriffe wie Völker, Kulturen, Nationen und Landschaften sollen einer Terminologie weichen, in der es um „spezifische Cluster von Strukturmerkmalen langer Dauer“ geht. Mit dem Kunstwort Slaka aus Malcolm Bradburys Roman „Rates of Exchange“, wollte man sogar die unscharfe Rede von Ostmitteleuropa ersetzen. Es wird so lange dekonstruiert, bis es den Gegenstand nicht mehr gibt.

 

Eine Brückenfunktion soll die Ukraine jetzt bekommen. Aber auch das ist ein lebloses Wort. Der Schriftsteller Andrzej Stasiuk hat es im Logbuch seiner Reise durch Mitteleuropa viel schöner formuliert. „Zwischen dem Osten, der nie existierte und dem Westen, der allzu sehr existierte, zu leben. Das bedeutet: in der Mitte zu leben, wenn diese Mitte eigentlich das einzige reale Land ist.“

 

Wie gehen wir damit um, wenn dieser Krieg um die Ukraine zu Ende geht und das Land womöglich der Europäischen Union beitritt und damit ein Teil des vereinten Europas wird. Haben wir diesmal gelernt nicht nur von einer wirtschaftlich dominierten Osterweiterung zu sprechen, sondern von einer selbstbewussten Nation, die ein eigenes Verständnis von Europa mitbringt, das es schon gab, als das Brüsseler Europa noch nicht existierte. Die Ukrainer wollen für diese Nation und ihre eigene Zukunft kämpfen. Das sei ihre Entscheidung und nicht unsere, hat Monika Maron vor Kurzem geschrieben. Sie dabei nicht zu unterstützen, „hieße tatenlos bei einem Völkermord zusehen“.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 05/22.

Johann Michael Möller
Johann Michael Möller ist Ethnologe und Journalist. Er war langjähriger Hörfunkdirektor des MDR.
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