Architektur in der Verantwortung

Der Bedarf an menschenwürdiger Stadtentwicklung ist enorm

Erstmals gewinnt in der 40-jährigen Geschichte des Pritzker-Preises mit Diébédo Francis Kéré ein Afrikaner diesen Preis. Es ist die höchste Auszeichnung auf dem Gebiet der Architektur. Kéré ist einer der innovativsten Architekten der Welt und ein Pionier für soziale Architektur. Sein Lebensweg ist bemerkenswert. Geboren 1965 in einem kleinen Dorf in Burkina Faso, verlässt er sein Land, um in Berlin Architektur zu studieren. Es war ein harter Weg, der ihn geprägt hat, bei dem die Traditionen und Bedürfnisse seiner Heimat und die technologischen Erkenntnisse gleichermaßen zur Geltung kommen. Er steht für einen deutlichen Paradigmenwechsel des Bauens, bei dem das soziale, ökonomische und politische Umfeld essenzieller Teil der Planung ist, zugleich Vertreter der Avantgarde und eines überzeugenden Pragmatismus, Stadtplanung mit menschlichen Dimensionen, gesellschaftliche Verantwortung, lokale Wertschöpfung und partizipatives Verhalten.

 

Die Auszeichnung ist ein Signal gegen die vorherrschende Form der Urbanisierung, bei der das industrialisierte Bauen weder auf lokale, kulturelle noch auf soziale Kontexte eingeht. Es entstehen einerseits gesichtslose Betonklötze oder Glitzerstädte als Ausdruck wirtschaftlicher oder politischer Macht. Zugleich wachsen ungesteuert zum rasanten Wachstum der Betonklötze die sogenannten informellen Siedlungen – Slums, Favelas, Townships. Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte lebt die Mehrheit der Weltbevölkerung in Städten. Bis 2050 werden zwei Drittel in urbanen Zentren ­leben.

 

Dabei ist die Urbanisierung nirgendwo so ausgeprägt wie in Subsahara-Afrika. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt bereits jetzt in Mega-Städten. Aber auch Beispiele wie Sao Paulo, Mumbai, oder die vielen wachsenden Metropolen in China zeigen eindringlich die tiefgreifenden Veränderungen. Ausgelöst durch weltweite Migrations- und Flüchtlingsbewegungen, demografischen Wandel, Erderwärmung, Kriege und Konflikte werden Städte zur Zuflucht und Hoffnung. Aber der Grundsatz „Stadtluft macht frei“ hat sich längst ins Gegenteil verkehrt. Die maßlose Verdichtung führt zu großen sozialen Spannungen, Kriminalität, Ausgrenzung und psychischer Belastung.

 

Wenn man bedenkt, dass unser tägliches Lebensumfeld ganz wesentlich von Architektur beeinflusst wird, dann ist die Langzeitwirkung einer ungesteuerten oder nur kommerziell orientierten Urbanisierung für die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft fatal. Es bedarf einer Stadtplanung mit menschlichen Dimensionen und dem Wechsel von Bauten und geplantem öffentlichen Raum. Investoren, Developer und eine unbewegliche Administration allein sind für einen Veränderungsprozess hin zu nachhaltigen Städten nicht ausreichend gerüstet. Erforderlich ist das gemeinsame Vorgehen von Architekten, Stadtplanern, Wissenschaftlern, Aktivisten, Künstlern und Nachbarschaft als Gruppe, die Initiativen planen und umsetzen, die Architektur wieder zu einer dienenden Rolle der Gesellschaft machen, um das menschliche Zusammenleben menschenwürdig zu ermöglichen und dem Urbanismus eine soziale Form geben. Dazu bedarf es nicht unbedingt einer ausgreifenden Programmatik, sondern eher eines schlüssigen Pragmatismus.

 

Gerade in den Weltregionen des Globalen Südens, der besonders durch die wuchernden Megastädte mit den Materialien Beton, Glas und Stahl geprägt wird, ist eine Gegenbewegung einer neuen Generation von Architekten entstanden, die nach dem lokalen Kontext fragt und sich der regionalen Bautraditionen bewusst wird. Francis Kéré ist inzwischen nicht mehr der einsame Rufer in der Wüste, seine Architektur ist auch nicht exotisch, sondern sie vereint Erfahrungen vieler Generationen mit modernen Erkenntnissen, sie ist zugleich traditionell und futuristisch. Darin ist er Vorbild für die neue Generation. Die lokalen Baumaterialien, wie komprimierte Erdziegel aus Lehm, sind ökologisch und klimatechnisch sinnvoll und ermöglichen nachhaltiges Bauen. Die Bauweise ist so raffiniert konstruiert, dass die damit erzielte Luftzirkulation Klimaanlagen überflüssig macht. Entstanden sind die Parlamentsgebäude in Benin und Burkina Faso, Schulen und Museen in Afrika und Europa, das von Christoph Schlingensief initiierte Operndorf und, derzeit in Konstruktion, das Goethe-­Institut in Dakar.

 

Das Wissen und die Erfahrung werden in professionellen Netzwerken weitergegeben, Universitäten erweitern ihre Lehrveranstaltungen um die Fachgebiete Erd- und Lehmbau, Stadtentwicklung ist bedeutungsvoll und nicht nur der Entwurf von singulären Gebäuden.

 

Kultur und Architektur sind nicht zu trennen. Unser menschliches Zusammenleben ist eine kulturelle Leistung. Der Lebensstil und die Bauweise müssen sich entsprechen. Das bedeutet aber auch entsprechende Mitwirkung, gesellschaftliche Diskussionen und kulturelle Teilhabe. Der Globale Süden hat eine zukunftsfähige Entwicklung begonnen. Sie muss sicher noch verstärkt werden, um eine bestimmende Einflussgröße zu werden. Der Globale Norden muss ebenfalls seine Hausaufgaben machen. Der große Bedarf an Wohnraum unterstützt vehement den Einfluss von reinen Investorenmodellen. Die Fehlentwicklungen werden deutlich in den Banlieues, den Randzonen der großen Städte, die der massiven Wohnungsnot abhelfen sollten und die allmählich zu Orten des sozialen Abstiegs wurden, soziale Brennpunkte mit Problemen wie Kriminalität und Drogenkonsum. Es bedarf hier einer konsequenten Stadtentwicklung. Dazu gehört auch der öffentliche Raum. Er ist der Ort, an dem Zukunft verhandelt wird. Wichtig ist eine stärkere Bürgerbeteiligung, um den Bedürfnissen besser gerecht zu werden und eine Akzeptanz und Identität zu schaffen.

 

Der Bedarf an menschenwürdiger Stadtentwicklung und nachhaltiger Architektur ist enorm. Die Naturkatastrophen und die kriegerischen Auseinandersetzungen der letzten Jahre haben zusätzlich zu den zurückliegenden falschen oder unzulänglichen Bauentscheidungen weitere Bestandslücken gerissen. Es genügt nicht, sie nach den gleichen Rezepten wieder zu füllen. Damit werden die Probleme der Zukunft nicht gelöst. Die inzwischen gewonnenen Erkenntnisse des Bauens müssen konsequent zur Anwendung kommen.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 05/22.

Klaus-Dieter Lehmann
Klaus-Dieter Lehmann ist Kulturmittler. Er war Präsident des Goethe-Instituts und der Stiftung Preußischer Kulturbesitz sowie Generaldirektor der Deutschen Bibliothek.
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