Koalitionsvertrag: Mehr Fortschritt wagen

Was heißt das für die Kultur?

Am 24. November wurde er vorgelegt, der Koalitionsvertrag von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP. Zum Drucktermin dieser Zeitung stehen die Entscheidungen der Parteitage von SPD und FDP sowie der digitalen Mitgliederbefragung von Bündnis 90/Die Grünen zur Annahme des Koalitionsvertrags noch aus. Doch es müsste schon mit dem sprichwörtlichen Teufel zugehen, wenn diese Hürden nicht genommen und wie geplant, Olaf Scholz zum vierten sozialdemokratischen Kanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt würde.

 

Die Überschrift dieses Koalitionsvertrags ist mutig: „Mehr Fortschritt wagen“. Das erinnert bewusst an die berühmte Regierungserklärung des ersten sozialdemokratischen Bundeskanzlers, Willy Brandt, „mehr Demokratie wagen“. Mehr Demokratie wollte die neue sozialliberale Koalition wagen. Mehr Fortschritt ist das Ziel der ersten Ampel-Regierung, man könnte fast sagen, sozialliberal plus Grüne, auf Bundesebene. Und es lohnt sich, den Koalitionsvertrag genau zu lesen, um die Versprechen und auch die Leerstellen mit Blick auf den Kultur- und Medienbereich auszumachen.

 

Zuerst die Enttäuschung: Weder wird es ein Bundeskulturministerium noch einen Bundeskulturminister im Bundeskanzleramt geben. Es bleibt bei der Staatsministerin für Kultur und Medien. Für die kommenden vier Jahre wird an der Spitze Der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien eine Grüne stehen. Auf sie warten viele Aufgaben und vor allem viel Koordinierungs- und Abstimmungsbedarf mit den anderen Ressorts. Denn wie schon in den vorherigen Koalitionsverträgen ist von Kultur und Kulturpolitik eben nicht nur im Kapitel „Kultur- und Medienpolitik“ die Rede, sondern ebenfalls in vielen anderen Kapiteln.

 

Digitalisierung

Durch den gesamten Koalitionsvertrag zieht sich das Thema Digitalisierung als Leitmotiv. Die Digitalisierung der Verwaltung, des Gesundheitswesens, der Landwirtschaft, der Finanzverwaltung, der Außenpolitik, des Ehrenamts, der der der … soll vorangetrieben werden. Es gibt eigentlich kein Thema, das die neue Bundesregierung angehen will, bei dem Digitalisierung keine Rolle spielen soll. Es ist insofern folgerichtig, dass es kein eigenständiges Digitalisierungsministerium geben wird, sondern vielmehr allen Ressorts der Digitalisierung eine wesentliche Funktion zugewiesen wird. Hier besteht ein Fortschrittsoptimismus, dass durch die Digitalisierung Impulse freigesetzt werden. Für den Kulturbereich wird dies bedeuten, die verschiedenen Ressorts im Blick zu halten und für den Deutschen Kulturrat die Querschnittsaufgabe Digitalisierung zu stärken.

 

Konkret wird im Koalitionsvertrag gerade mit Blick auf Wissenschaft und Forschung formuliert, Open Access als gemeinsamen Standard zu etablieren. Weiter ist ein wissenschaftsfreundlicheres Urheberrecht vorgesehen – hier bleibt zunächst offen, welche Initiativen über das in der letzten Wahlperiode verabschiedete Urheberrechts-Wissensgesellschafts-Gesetz geplant sind. Konkret wird im Kulturkapitel angesprochen, dass ein fairer Interessenausgleich angestrebt wird. Dies soll auch mit Blick auf faire Rahmenbedingungen für E-Lending gelten. Gleichfalls soll die Vergütungssituation für kreative und journalistische Inhalte verbessert werden. Hier wird vermutlich eine erste Bewährungsprobe des Ansprechpartners bzw. der Ansprechpartnerin für Kultur- und Kreativwirtschaft bei der Bundesregierung anstehen.

 

Kultur- und Kreativwirtschaft
Zwar wird im Kulturkapitel die Berufung des Kultur- und Kreativwirtschaftsbeauftragten angekündigt, ansonsten bleibt es mit Aussagen zu dieser Branche sehr dünn. Im umfänglichen Wirtschaftskapitel, in dem verschiedene Wirtschaftszweige von der Automobilwirtschaft über die Maritime Wirtschaft bis zur Tourismuswirtschaft alle möglichen Wirtschaftszweige durchgegangen werden, findet sich kein Wort zur Kultur- und Kreativwirtschaft. Hier scheint beim designierten Wirtschaftsminister Robert Habeck noch Nachholbedarf zu bestehen. Bei künftigen Freihandelsabkommen sollen der Multilateralismus und faire, soziale, ökologische und menschenrechtliche Standards gestärkt werden – auf die Konvention kulturelle Vielfalt wird leider kein Bezug genommen.

 

Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik
Sehr umfänglich sind die Aussagen zur Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, die auch den Kultur- und Mediensektor betreffen. Im Kulturkapitel wird ausgeführt, dass Soloselbständige und hybrid beschäftigte Kreative besser sozial abgesichert werden. Weiter soll die Künstlersozialkasse finanziell stabilisiert und die erhöhten Zuverdienstmöglichkeiten für KSK-Versicherte aus nichtkünstlerischer selbständiger Arbeit erhalten bleiben. Im Arbeitsmarktkapitel wird weiter ausgeführt, dass der Zugang für Selbständige zur freiwilligen Arbeitslosenversicherung erleichtert werden soll.

 

Vereinfachungen und Weiterentwicklungen sollen geprüft werden. Die Neustarthilfe im Rahmen der Überbrückungshilfe III Plus soll fortgeführt werden. Weiter sollen steuerfinanzierte Wirtschaftshilfen entwickelt werden, damit bei nicht selbst verantworteten Erwerbsausfällen die Lebensunterhaltungskosten finanziert werden können – vulgo eine Art Unternehmerlohn. Mit Blick auf die Statusfeststellungsverfahren (Scheinselbständigkeit) soll gerade mit Blick auf die digitale Arbeitswelt mehr Rechtssicherheit geschaffen werden. Hinsichtlich der Rentenpolitik soll die Wirkung der Grundrente evaluiert werden – dies wird insbesondere auch Künstlerinnen und Künstler betreffen. Für neue Selbständige soll eine Pflicht zur Altersvorsorge eingeführt werden. Die gesetzliche Rentenversicherung soll hier die Regel werden. Geplant ist eine Opt-Out-Regel, um ein privates Vorsorgemodell wählen zu können, das allerdings insolvenz- und pfändungssicher sein muss. Hoffentlich wird dieses Vorhaben, das nun seit mindestens drei Wahlperioden diskutiert wird, endlich umgesetzt. Weiter soll die bisherige Grundsicherung zu einem Bürgergeld umgewandelt werden. Geplant ist, die in der Coronapandemie eingeführten Regelungen fortzuführen.

Olaf Zimmermann & Gabriele Schulz
Olaf Zimmermann ist Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates. Gabriele Schulz ist Stellvertretende Geschäftsführerin des Deutschen Kulturrates.
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