Pflicht, (Will)Kür oder Wandel zur kulturellen Daseinsvorsorge?

Rechtsanspruch auf Ganztag

Das deutsche Bildungssystem unterschied sich lange Zeit von anderen Bildungssystemen durch seine Halbtagsstruktur: vormittags Schule, nachmittags unabhängige non-formale kulturelle oder sportliche Bildungs- und Betreuungsangebote. Mit dem Programm Ideen für mehr! Ganztägig lernen“ erfolgte 2004 der Ausbau zum Ganztag – in formaler Verantwortung! Schuldirektorinnen und -direktoren wurden dabei zu Einkäuferinnen und Einkäufern von Dienstleistungen im Sektor Betreuung und nonformale Bildung. Für kulturelle Bildungsangebote mit qualifiziertem Fachpersonal reichen die zur Verfügung stehenden Finanzmittel für den Ganztag dabei oft nicht aus. Um dennoch qualifizierte kulturelle Bildungsangebote im Ganztag zu ermöglichen, wurden bundes- und landesweite Förderprogramme aufgesetzt. Mit der Notwendigkeit, hier immer wieder oft jährlich neue Förderanträge stellen zu müssen, hängt die Präsenz kultureller Bildungsangebote im Ganztag vielerorts vom Engagement der Schuldirektorinnen und -direktoren oder von Kommunen ab, die hier im Rahmen von Kommunalen Gesamtkonzepten Kultureller BildungUnterstützungsstrukturen für Schulen schaffen. Fakt ist jedoch: Nonformale Bildungsangebote im Ganztag sind (derzeit) in Deutschland kein Selbstläufer, sondern bedürfen vielfältiger Unterstützung und persönlichen Engagements.  

 

In Ländern mit Ganztagstradition ist dies anders. So werden beispielsweise im amerikanischen Schulsystem Fachlehrkräfte für Sport, Kunst- und Musikerziehung nicht nur in der Primary School in allen Klassenstufen eingesetzt. Darüber hinaus sind frei wählbare außerschulische kulturelle und sportliche Bildungsangebote fest verankert. Nonformale Angebote haben einen festen Platz im Ganztag und stehen ALLEN Schülerinnen und Schülern – auf freiwilliger Basis – zur Verfügung. So können durch die Verortung nonformaler kultureller Bildungsangebote im Ganztag alle Kinder – unabhängig von ihrem sozialen Hintergrund – erreicht werden. Eine solche Struktur fehlt dem derzeitigen deutschen Bildungssystem. Das Bundesprogramm Kultur macht stark“ ist ein erster Versuch, Teilhabegerechtigkeit für junge bildungsbenachteiligte Menschen herzustellen, durch das Bereitstellen kostenfreier kultureller Bildungsangebote. Die bestehenden Förderstrukturen des Programms reichen jedoch bisher nicht aus für ein flächendeckendes oder gar nachhaltiges Erreichen dieser Zielgruppe.  

 

Mit dem Rechtsanspruch auf Ganztag bietet sich jetzt die Chance, diesen nachhaltig – im Sinne von Teilhabegerechtigkeit – zu gestalten. Dies bedeutet mehr Investitionen: So lagen 2017 zum Vergleich die Anteile der Bildungsausgaben am BIP bei Ländern mit Ganztagstradition wie Frankreich (5,2 %), den USA (6,2 %), Großbritannien (6,3%) oder Norwegen (6,7 %) deutlich höher als in Deutschland (4,2 %). 

 

Wenn also ein Aufstocken der Finanzmittel für den Ganztag unumgänglich ist, warum dann nicht, statt in neue Betreuungsstrukturen in den flächendeckenden Ausbau der schon bestehenden nonformalen Bildungs- und Betreuungsstrukturen investieren und diesen die (Mit)Verantwortung für den Ganztag übertragen? Junge Menschen würden so nicht nur ein Recht auf formale Bildung und Betreuung, sondern zugleich auf nonformale Bildung erhalten! Entscheidend ist dabei die gleichberechtigte Ausgestaltung und Verantwortung für den Ganztag von formalen und non-formalen Partnern wie kommunale Kultur-, Bildungs- und Jugendeinrichtungen, beispielsweise Sportverbände, Musikschulen, Bibliotheken oder Museen, um Prinzipien des nonformalen wie Interessen, Partizipation und Freiwilligkeit in den Blick zu nehmen. Damit könnte zugleich endlich auch die Aufwertung von Kultur von einer freiwilligen Aufgabe hin zu einer kommunalen Pflichtaufgabe im Zuge kultureller Daseinsvorsorge gelingen. Denn – so ein afrikanisches Sprichwort – es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen.  

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2021-01/2022.

Susanne Keuchel
Susanne Keuchel ist ehrenamtliche Präsidentin des Deutschen Kulturrates und Hauptamtlich Direktorin der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW.
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