Im Land der vier Kulturministerien

Die Kulturpolitik in Belgien

Belgien ist ein kleines Land im Westen Europas. 11,3 Millionen Einwohner hat es und eine Fläche von gut 30.000 Quadratkilometern. Doch wer sich die Kulturszene zwischen Ostende und Eupen, Mons und Antwerpen anschaut, reibt sich überrascht die Augen, denn zur geringen Größe des Landes verhalten sich Qualität und Vielfalt der Kulturproduktion umgekehrt proportional. Darüber sind sich die Kulturschaffenden aller Sparten und Sprachgruppen einig. Serge Rangoni, Intendant des Théâtre de Liège, lobt die Dynamik und den Reichtum der belgischen Szene, Marie du Chastel, die in Namur das KIKK Festival für digitale und kreative Kulturen voranbringt, freut sich über das „Klima der Avantgarde und der Experimentierfreude“, und Tom Bonte, Intendant des multidisziplinären Theaterhauses Beursschouwburg, findet Brüssel „sehr attraktiv für Künstler“, weil die Mieten vergleichsweise niedrig ausfielen und die Kunstszene so lebendig sei.

 

Es stimmt: Belgien hat eine reiche Kulturproduktion und eine vielfältige Kulturlandschaft. Dies gilt nicht nur für die Hauptstadt Brüssel, sondern auch für die größeren und kleineren Städte der Wallonie, Flanderns und Ostbelgiens. Dort finden sich zahlreiche temporäre wie permanente Einrichtungen, die sich der Kultur verschreiben, vom Agora Theater in St. Vith hin zum Mu.ZEE in Ostende, vom Fotografie-Museum in Charleroi bis zur Contour Biennale in Mechelen. „Belgien ist ein dicht besiedeltes Land“, sagt Michael Kreitz aus dem Leitungsteam des Eupener Meakusma Festivals, „und die geografische Nähe selbst der ländlichen Gebiete zu den Städten sorgt dafür, dass auch dort ein leichter Zugang zu Kultur zu finden ist“. Eupen z. B. hat knapp 20.000 Einwohner, ist deutschsprachig und liegt am Rand einer geschützten Hochmoorlandschaft. Mit IKOB hat es ein Museum für zeitgenössische Kunst und mit Meakusma ein Festival für experimentelle und elektronische Musik, das weit über die Landesgrenzen hinaus geschätzt wird. Vergleichbares dürfte man in Korbach oder Eberswalde eher nicht erwarten. Kreitz findet: „Für eine kleine Gemeinschaft wie Ostbelgien kann man das sicher als Luxus bezeichnen.“

 

In einigen Sparten geben belgische Künstlerinnen und Künstler sowie solche, die es nach Belgien verschlagen hat, wichtige Impulse für internationale Entwicklungen. P.A.R.T.S., eine Hochschule für Tanz im Süden von Brüssel, hat, seitdem sie vor 23 Jahren gegründet wurde, viele international erfolgreiche Choreografen und Tänzerinnen ausgebildet, unter ihnen Marlene Monteiro Freitas, Michiel Vandevelde oder Mette Ingvartsen. Die Choreografin Anne Teresa de Keersmaeker, die mit ihrer Compagnie Rosas auf demselben Areal wie P.A.R.T.S. probt, begeisterte im September 2018 mit „Die sechs Brandenburgischen Konzerte“ das Berliner Publikum, und das ausgerechnet auf dem verminten Terrain der Volksbühne.

 

Sobald man Umsätze oder Tradition zum Kriterium nimmt, mag sich die Modeszene von Antwerpen, zu der Designer wie Ann Demeulemeester, Dries van Noten oder Haider Ackermann zählen, zwar nicht mit Paris oder Mailand messen können, doch was die Innovationskraft angeht, steht sie den etablierten Modestädten in nichts nach. Fashionistas wissen, was mit „Antwerp Six“ gemeint ist – nämlich eine Gruppe von sechs Designern, die Mitte der 1980er Jahre einen gemeinsamen, spektakulären Auftritt bei der London Fashion Week hatten.

 

Außerdem kennen sich die Kulturschaffenden in Belgien gut aus, sobald interdisziplinäre Experimente und spartenübergreifendes Arbeiten gefragt sind. Was Chris Dercon während seiner kurzen Intendanz an der Volksbühne in Berlin nicht durchsetzen konnte, ist in Belgien selbstverständlicher Teil des Kulturlebens. Das „Kunstenfestivaldesarts“ beispielsweise macht jedes Jahr im Mai deutlich, wie bereichernd es sein kann, wenn die Grenzen zwischen Installation und Performance verwischen. Der Abkehr von Sprechtheater und fester Ensemblestruktur, der deutsche Theatermacher, Kritiker und Kulturpolitiker meist mit Angst begegnen, wird in Belgien als eine neue Möglichkeit künstlerischen Ausdrucks geschätzt.

 

Trotz dieses Reichtums ist die Lage kompliziert. Warum? Weil Belgien ein Land mit einem Königshaus, einer Bundesregierung, drei Sprachgemeinschaften und drei Regionen ist, wobei letztere nicht deckungsgleich mit den Sprachgemeinschaften sind. Die Zuständigkeit für die kulturellen Aktivitäten liegt demnach in unterschiedlichen Händen, vor allem aber in denen der drei Sprachgemeinschaften. Insgesamt gibt es vier Personen, die das Amt einer Kulturministerin oder eines Kulturministers innehaben: Didier Reynders für die föderale Regierung, Alda Greoli für die Fédération Wallonie-Bruxelles, Sven Gatz für die flämische und Isabelle Weykmans für die Deutschsprachige Gemeinschaft. Spannungen bleiben nicht aus, zumal die flämische Gemeinschaft eine professionellere, finanziell besser ausgestattete Kulturpolitik verfolgt. Ihr Slogan lautet dementsprechend selbstbewusst: „Flanders. State of the Art“.

Cristina Nord
Cristina Nord ist Leiterin der Programmarbeit mit regionalem Fachauftrag am Goethe-Institut Brüssel.
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