Hearts and minds

Ansätze europäischer Kulturpolitik

Dass Jean Monet gesagt haben soll, wenn er noch einmal von vorne anfangen könnte, würde er mit Kultur beginnen, stimmt wohl nicht. Es ist aber ein schönes und gerade in letzter Zeit oft bemühtes Zitat. In der aktuellen Situation der Europäischen Union, in der eine Krise die nächste jagt, das Vertrauen schwindet und die Bürger sich vermehrt ihren nationalen Interessen zuwenden, stellt sich so mancher die Sinnfrage. Wirtschaftliche Integration, landwirtschaftliche Normen und eine gemeinsame Währung reichen nicht aus, um die Menschen zu begeistern, die „hearts and minds“ anzusprechen, innerhalb und außerhalb der Europäischen Union.

 

Es geht um Gefühl, Identität und um den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Aus diesem Grund gerät die Kultur zunehmend ins Bewusstsein der europäischen Politikmacher, auch wenn Kultur und Bildung in der Kompetenz der einzelnen Mitgliedsstaaten liegt und das sogenannte Subsidiaritätsprinzip gilt. Die Europäische Union kann demnach nur ergänzend und unterstützend zur Kulturpolitik ihrer Mitgliedstaaten tätig werden, so z. B. in den Bereichen des Schutzes des europäischen Kulturerbes, der Zusammenarbeit von Kulturinstitutionen verschiedener Länder und der Förderung grenzüberschreitender Mobilität von Künstlern und Kulturschaffenden. Seit dem Vertrag von Maastricht von 1992 ist Kultur Bestandteil der europäischen Verträge, im Vertrag von Lissabon von 2007 ist klar die Wahrung der „kulturellen und sprachlichen Vielfalt“ und der „Schutz und (die) Entwicklung des kulturellen Erbes Europas“ festgeschrieben. Sowohl die EU als supranationale Organisation als auch alle 25 damaligen Mitgliedsstaaten traten der UNESCO-Konvention zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen von 2005 bei. Dies galt als großer diplomatischer Erfolg und verlieh der europäischen Position bereits in den Verhandlungen besonderes Gewicht. Die Konvention bleibt bis heute ein wichtiger Bezugspunkt in europäischen Dokumenten, ihr zehnjähriges Inkrafttreten wurde im letzten Jahr auch in Brüssel gefeiert.

 

Seit 2007 hat die Europäische Union eine Kulturagenda. Diese Strategie erkennt an, dass Kultur unverzichtbar ist, um die strategischen EU-Ziele Wohlstand, Solidarität und Sicherheit zu erreichen und gleichzeitig ihre Präsenz auf internationaler Ebene ausbauen zu können. Geprägt sind die relevanten EU-Programme von den drei inhaltlichen Zielsetzungen „kulturelle Vielfalt und interkultureller Dialog“, „Kultur als Katalysator für Kreativität“ und „Kultur als zentraler Bestandteil internationaler Beziehungen“. Der Deutsche Kulturrat begrüßte damals „dass mit dieser Forderung auch die Einbeziehung von Kultur in die Bildungsinhalte einhergeht und dadurch Kultur und kulturelle Bildung stärker in der Bildungspolitik der EU-Politik verankert werden“.

 

Besonders entscheidend für die Arbeit des Goethe-Instituts als europäisches Kulturinstitut war in diesem Zusammenhang der Bereich der Außenbeziehungen. Ohne diesen Referenzanker wären spätere Initiativen wie der Schaake-Bericht der EU von 2011 und die sich daraus ergebende „Vorbereitende Maßnahme“ schwer vorstellbar gewesen. Auch die gemeinsame Mitteilung der Außenbeauftragten Federica Mogherini und der Kommission vom Juni 2016 „Künftige Strategie der EU für internationale Kulturbeziehungen“ baut auf dieser Kulturagenda auf.

 

Die Regionalleitung des Goethe-Instituts in Brüssel vertritt den Europaauftrag der Gesamtinstitution und ist neben dem extra eingerichteten EU-Büro zentrale Ansprechstelle sowohl für die Europäischen Institutionen als auch für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Goethe-Instituts weltweit bei Fragen rund um die EU. Seit 2011 engagiert sich das Goethe-Institut intensiv für eine Stärkung der Kultur in den EU-Außenbeziehungen. Damals wurde mit Partnern aus dem öffentlichen und dem privaten Bereich die Initiative „More Europe“ gegründet, um sowohl in Brüssel bei den Europäischen Institutionen als auch in den Hauptstädten der Mitgliedsländer Verantwortliche sowie kulturelle Akteure und Künstler für das Thema zu sensibilisieren. Im Auftrag der EU setzte das Goethe-Institut Brüssel von 2012 bis 2014 in einem Konsortium gleichgesinnter Kulturinstitutionen eine Recherche um – die sogenannte „Vorbereitende Maßnahme“ oder „Preparatory Action“ –, die die Kulturbeziehungen inner- und außerhalb der EU untersuchte. Ein wichtiges Resultat war der Grundsatz des „voneinander Lernens und Teilens“, der auch für die Arbeit des Goethe-Instituts fundamental ist.

 

Die Präsentation der künftigen Strategie der EU für internationale Kulturbeziehungen – „Towards an EU strategy for international cultural relations“ – durch die EU-Außenbeauftragte Mogherini kann ebenfalls als Erfolg der Arbeit von „More Europe“ und anderen gelten. So begrüßte der Kultursektor inner- und außerhalb der EU im April 2016 diesen Paradigmenwechsel mit viel Elan. Laut Mogherini sollte Kultur von nun an im Herzen der EU-Außenbeziehungen stehen. Der Vorschlag wurde im Anschluss von den Mitgliedsstaaten im Rat und den europäischen Volksvertreterinnen und -vertretern im Parlament ratifiziert.

 

Die Strategie sieht einzelne Instrumente vor, um den politischen Grundsatztext mit Leben zu füllen. Zum einen wurde die „Cultural Diplomacy Platform“ geschaffen, die seit 2016 EU-Delegationen – eine Art europäische Botschaften außerhalb der EU – weltweit bei der Umsetzung von Kulturprojekten berät und unterstützt. Das Goethe-Institut leitet das Konsortium der „Cultural Diplomacy Platform“, das aus verschiedenen nationalen Kulturinstituten sowie kulturellen Organisationen der europäischen Zivilgesellschaft besteht. Zum anderen unterzeichnete die Europäische Kommission ein Abkommen mit EUNIC, der Europäischen Vereinigung nationaler Kulturinstitute. Die über hundert EUNIC-Cluster weltweit sollen gemeinsam mit den EU-Delegationen und lokalen Kulturakteuren Projekte initiieren.

 

Das Goethe-Institut engagiert sich als Gründungsmitglied und aktives Mitglied im EUNIC-Netzwerk seit über zehn Jahren. Dies ist nicht immer einfach, denn natürlich reflektiert die Arbeit im Netzwerk die politischen Entwicklungen in der Europäischen Union insgesamt. Die Verschiebung politischer Mehrheiten im Inland hat Einfluss auf die Ausgestaltung der Kulturarbeit im Ausland. Ideologische Diskussionen über neue Oppositionen von nationalen versus europäischen Themen oder progressive versus konservative Künstlerinnen und Künstler sind nunmehr keine Seltenheit. Vielleicht kann das EUNIC-Netzwerk ein passendes Forum für die notwendige Aushandlung von europäischen Werten bieten.

 

Im Mai dieses Jahres hat die Europäische Kommission eine neue Kultur­agenda vorgelegt. Während die beiden Ziele, die die wirtschaftliche und die außenpolitische Perspektive behandeln, nur im Hinblick auf die Schwerpunktlegung verändert wurden, scheint nun vor allem die soziale Komponente ein zentraler Fokus europäischer Kulturpolitik zu sein, um „die Möglichkeiten der Kultur und der kulturellen Vielfalt zur Schaffung von sozialem Zusammenhalt und (…) Wohlbefinden“ zu nutzen und Möglichkeiten der kulturellen Teilhabe zu stärken.

 

Der durch die erste Kulturagenda eingeführte organisatorische Rahmen hat sich bewährt, sodass auch in Zukunft zwei parallel laufende Prozesse von der Europäischen Kommission verfolgt werden, um sowohl die Mitgliedsstaaten als auch die Zivilgesellschaft stärker bei Kulturfragen miteinzubinden. Die Diskussionen der Vertreterinnen und Vertreter der Mitgliedsstaaten in den sogenannten „OMC-Gruppen“ – OMC steht für „Open Method of Coordination“ – scheinen zwar in einigen Fällen langatmig und wenig zielorientiert zu verlaufen, dennoch ermöglicht das Format die Sensibilisierung der Mitgliedsstaaten für bestimmte Themen wie etwa „Publikumsentwicklung durch digitale Mittel“, „Partizipative Governance von kulturellem Erbe“ oder „Die Integration von Geflüchteten und Migranten durch Kultur“. Die europäische Zivilgesellschaft aus dem Kreativ- und Kulturbereich wird darüber hinaus ebenfalls über den strukturierten Dialog mit der Europäischen Kommission stärker involviert. Dieser wurde während der letzten vier Jahre vom Goethe-Institut implementiert. In thematischen Untergruppen diskutierten die Teilnehmenden über ihre Erfahrungen und stellten ihre Empfehlungen der Europäischen Kommission bei einem Dialogtreffen in Form eines Reports vor.

 

Der innereuropäische Diskurs über auswärtige Kulturpolitik vollzieht sich in einem Moment, in dem sich zunehmend auch nicht-europäische Länder strategisch in diesem Bereich aufstellen. Eine Studie der Hertie School of Governance im Auftrag des Auswärtigen Amts unterstreicht, dass Deutschland durch seine mehr oder weniger konstanten Mittel weiterhin eine gute Position „in den eher traditionellen Bereichen der AKBP (Sprache, Kulturaustausch, Wissenschaft)“ innehat. Angesichts des intensiven Ausbaus der außenkulturpolitischen Aktivitäten anderer Länder empfiehlt die Studie jedoch eine quantitative und eine qualitative Neuausrichtung deutscher Auswärtiger Kultur- und Bildungspolitik (AKBP), konkret das Aufstocken der Mittel, eine regionale Neufokussierung und eben die europäische Zusammenarbeit. Die Zukunft der nationalen Kulturpolitik wird zunehmend europäisch gedacht werden müssen, um einen gemeinsamen europäischen Kulturraum, der auf kultureller Vielfalt, Eigenständigkeit und universellen Menschenrechten basiert, zu schaffen und zu verteidigen.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/2018

Susanne Höhn
Susanne Höhn ist Leiterin der Region Südwesteuropa und Europabeauftragte am Goethe-Institut Brüssel.
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