Hygienekultur, was ist das?

Ein Überblick zur "Verminderung von Dreck und Keimen"

„H ygiene“ leitet sich ab von der griechischen Heilgottheit Ὑγίεια  Hygíeia oder  Ὑγεία  Hygeía, die in der Antike als Tochter oder Gemahlin des Asklepios, Gott der Heilkunst, begriffen wurde. Hygiene war also schon früh im Zuständigkeitsbereich der Medizin verortet. Gesunderhaltung und Vorbeugung von Krankheiten umfasst der Begriff damals wie heute, doch je nach Interesse und Ausgangspunkt – ein Körperteil, z. B. Handhygiene, ein einzelner Mensch, oder gar eine Gruppe – können unterschiedliche Praktiken und Gebote, die dann gerne als Kultur bezeichnet werden, darunter versammelt sein.

 

Erwähnens- und beachtenswert erscheinen heute immer noch die umfassend gedachten sechs „res non naturalis“ der Hippokratischen Medizin. Diese beziehen sich auf eine Beachtung eines gesunden, hygienischen Verhältnisses von Luft und Licht, Essen und Trinken, Bewegung und Ruhe, Schlafen und Wachen, Ausscheidungen und Gemütsbewegungen.

 

Erste staatlich ausformulierte Hygienevorschriften finden sich bei Johann Peter Frank, der in seinem „System einer vollständigen medizinischen Policey“ das Aktionsfeld der Gesundheitspflege absteckte.

 

Den ersten universitären Lehrstuhl für Hygiene an einer medizinischen Fakultät erhielt der studierte Arzt und Apotheker Max von Pettenkofer im Jahr 1865 in München. Er befasste sich vornehmlich mit den Einwirkungen von Klima, Kleidung, Belüftung, Grundwasser und Boden auf die Krankheitsausbreitung, die Trinkwasser- und Nahrungsmittelhygiene, Abwasser- und Fäkalhygiene und mit der Hygiene in öffentlichen Einrichtungen sowie mit der Medizin- und Biostatistik.

 

Für lebenswerte und gesunde Verhältnisse setzte sich auch der Berliner Arzt, Pathologe und Politiker Rudolf Virchow ein, für den die öffentliche Gesundheit das höchste Gut darstellte. Seit den 1860er Jahren forderte er eine Kanalisation für Berlin, gebaut zwischen 1873 und 1890, um so die Ausbreitung von Krankheiten durch unreines Trinkwasser zu verhindern.
Doch 1885 wurde Robert Koch zum Direktor des Hygiene-Instituts der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin ernannt, nachdem er sich als Entdecker des Tuberkulose-Bazillus einen Namen gemacht hatte. Mit Koch weitete die Hygiene ihr Aufgabengebiet auf die Erregerentdeckung, hier also zunächst auf die Bakteriologie, aus. Zwar waren diese unter dem Lichtmikroskop sichtbaren Kleinstlebewesen schon bekannt, ihre ursächliche Verknüpfung mit Krankheiten drang erst im 19. Jahrhundert in den allgemeinen Wissenskanon ein, durch Louis Pasteur und eben Koch. Kontroverse Auffassungen vertrat Pettenkofer hinsichtlich der Erreger-Theorie Robert Kochs. Pettenkofer wollte die alleinige Betonung des Krankheitserregers für das Zustandekommen einer Krankheit so nicht stützen, hielt er doch eine örtliche und eine persönliche Disposition für das Zustandekommen einer Krankheit zwingend notwendig. So disputierten ein Preuße – Koch – und ein Bayer – Pettenkofer – über die desolate Situation in Hamburg, wo es 1892 zu einem dramatischen Choleraausbruch gekommen war. Die Krankheitserreger waren gewiss die Cholerabakterien, die durch die mangelnde Trennung von Trink- und Abwasser in einem zu heißen Sommer – in der Elbe wurde eine Wassertemperatur von 22°C gemessen – sich massenhaft vermehrten. Waren es die engen, lichtarmen Wohnverhältnisse der Hafenarbeiter oder deren geringe Kenntnis über den Nutzen von abzukochendem Wasser, die zum Krankheitsausbruch führten? Das Erkennen von Krankheitserregern fördert das theoretische Wissen – für den lebensweltlichen Umgang sind praktische Ansätze aus weiteren Wissensfeldern notwendig. Und so war es wiede-rum Virchow, der Pathologe, der sich um verbesserte hygienische Verhältnisse in den Markthallen und in den Schlachthöfen engagierte, und in Letztgenannten die immer noch praktizierte Trichinenschau einführte. Damit konnte wirksam ein Infektionsübertritt vom Tier auf den Menschen verhindert werden.

 

Zur Hygiene gehören auch die Epidemiologie, die Beobachtung und Erfassung von Erkrankungen und Dispositionen ebenso wie die Ingenieurwis-senschaften, die bauliche und architektonische Voraussetzungen schaffen für genügend Licht, sauberes Trinkwasser und davon getrennt laufendes Abwasser. Koch stand in Berlin nicht nur einem Hygiene-Institut vor, sondern auch dem Hygiene-Museum. Dessen Exponate, die zu einem Großteil von der im Jahr 1883 in Berlin eröffneten Hygiene-Ausstellung stammten, wurden in 150 Räumen der Öffentlichkeit präsentiert. Die Auffassung, dass Volksbildung durch Ausstellungen zur Hygiene vonnöten ist, führte auch 1912 zur Gründung des Hygiene-Museums in Dresden durch den Industriellen und Mundwasser-Fabrikanten Karl August Lingner. Nicht unerwähnt sollten Begriffe wie Lufthygiene, Bodenhygiene und Gewerbehygiene bleiben, die aufzeigen, dass es nicht nur um den Menschenallein, sondern um den Menschen und die Menschheit in ihrer Umwelt geht, wenn die Gesundheit und die Gesunderhaltung das Ziel sind. Ein gesundes Klima, sei es im kleinen, familiären Kreis, in der eigenen Wohnung oder am Arbeitsplatz, und weltweite Anstrengungen, das Klima zu verbessern, fördern nach hygienischen Kautelen die Gesundheit der Einzelnen und der Gemeinschaften.

 

Auch wenn Hygiene und ihre Maßnahmen seit Ende des 19. Jahrhunderts vermeintlich eingeengt auf den Schutz vor Infektionskrankheiten gedacht wurden, dürfen die Übernahmen des Begriffs in andere Bereiche nicht ignoriert werden. So wurde mit dem Terminus der „Rassenhygiene“ die Reinhaltung eines Volkes bezeichnet und wissenschaftlich untersucht, um so die Aufartung einer „Rasse“ voranzutreiben, einer antizipierten Degeneration entgegenzusteuern. Züchtung, Exklusion durch Zwangssterilisation und Vernichtung durch Mord waren Methoden, mit denen dies erfolgen sollte.

 

Der Begriff der Psychohygiene wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts eingeführt, um ein geistig-seelisches Gleichgewicht und eine Robustheit zu erhalten, die widerstandfähig macht gegen die Einflüsse der Zivilisation. Unklar war hier, ob dieses Konzept auf den einzelnen Menschen oder eine umschriebene Gruppe abzielen wollte.

 

Körperhygiene kann auch als Körperkultur betrachtet werden. Waschen, baden, pudern, parfümieren, Haare und Nägel schneiden, rasieren unterliegt Konjunkturen, die gerne als Kulturen bezeichnet werden und sich wandeln, mal merklich-bewusst, mal unmerklich. Bevor nach dem Zweiten Weltkrieg ein Badezimmer regelhaft Bestandteil einer Wohnung wurde, war es üblich, sich im Zimmer zu waschen, mit einem Waschlappen, das Wasser in der Waschschüssel mit einem Krug herbeigebracht. Baden im Zuber, das gemeinsame Benutzen des Badewassers oder nacheinander, war hierzulande noch lange üblich. Das Duschen hat das tägliche Waschen und wöchentliche Bad abgelöst. Nun wird überdacht, wie bei der Körperhygiene Wasser gespart werden kann. Ist eine tägliche Dusche wirklich notwendig? Bekommt der Waschlappen wieder Konjunktur?! Welche Bedeutung besitzen Empfehlungen zur Duschdauer, wo moderne Einhebelmischer einfacher abgedreht werden können als die Mischbatterien mit zwei Ventilen? Bei der Körperhygiene geht es um ein Wohlgefühl und um die Reinigung durch die Verminderung bzw. Verdünnung von Dreck und Keimen, hygienische und kulturelle Handlungen sind untrennbar miteinander verwoben.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/22-1/23.

Marion Hulverscheidt
Marion Hulverscheidt ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachgebiet Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Kassel.
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