Warum dieser Furor?

Was hat es mit dem angeblichen Skandal um NEUSTART KULTUR auf sich?

M itte November wollte Deutsch-landfunk Kultur einen journalistischen Coup landen und einen vermeintlichen Skandal beim Programm NEUSTART KULTUR aufdecken. Über Monate hinweg hatte ein Team von drei Investigativjournalisten bei den Bundesverbänden, Bundeskulturfonds und Stiftungen, den sogenannten Mittel ausreichenden Stellen, recherchiert. Sie mit Fragebögen und Nachfragen überzogen und sich nicht entblödet, mit negativen Folgen zu drohen, wenn weitergesagt würde, dass sie investigativ recherchieren. Bei dem Gewese, das darum gemacht wurde,könnte man meinen, mindestens so etwas wie die „Panama Papers“ käme heraus. Nichts dergleichen ist der Fall.

 

Zum einen ist die Mehrzahl der Informationen zu den inzwischen 78 Programmen ausgehend von der Seite NEUSTART KULTUR unter kulturstaatsministerin.de den Webseiten der Mittel ausreichenden Stellen zu entnehmen. Die weitaus größte Zahl der Mittel ausreichenden Stellen informiert sehr ausführlich über die Zielsetzung der Förderung, über die Fördersummen, über die geförderten Institutionen oder Personen. Wie im Kulturbereich üblich, wird nicht bekannt gegeben, wer nicht gefördert und vor allem auch nicht, warum ein Förderantrag nicht bewilligt wurde. Dieses hätte womöglich negative Auswirkungen auf die Antragsteller und wäre nicht in deren Sinne, wenn sie auf einer solchen Liste erscheinen würden. Zusätzlich zu diesen Grundinformationen gibt es Instagram-Storys, Projektberichte, Evaluationen einzelner Programmbausteine, in denen gezeigt wird, wie wichtig dieses Programm war und nach wie vor ist.

 

Es bedarf weniger investigatives Gespür, als vielmehr Bereitschaft, sich auf die Vielfalt und vor allem auch Unterschiedlichkeit der Kulturszene einzulassen, wenn man sich ein Bild von NEUSTART KULTUR machen will.

 

Zum Zweiten wollte Deutschlandfunk Kultur skandalisieren, dass Unternehmen der Kultur- und Kreativwirtschaft aus diesem Programm gefördert wurden. Da die Recherche zur Eröffnung der Art Cologne erschien, wurden sich als Erstes die Galerien vorgenommen und herausgearbeitet, dass es Treffen zwischen dem Bundesverband Deutscher Galerien und der damaligen Kulturstaatsministerin Monika Grütters, MdB gab. Sogar 90 Minuten nahm dieses Gespräch in Anspruch. Chapeau! kann man nur sagen vor dieser journalistischen Glanzleistung. Doch Spott beiseite: Es ist gut und richtig, dass Kulturstaatsministerin Grütters sich mit den Verbänden der Kultur- und Kreativwirtschaft traf, und es ist zu erwarten, dass die jetzige Amtsinhaberin, Kulturstaatsministerin Claudia Roth, dieses ebenfalls machen wird. Es gehört zu ihren Kernaufgaben.Die Kultur- und Kreativwirtschaft, zu der im Übrigen allen Definitionen und Berichten zur Wirtschaftslage dieser Branche zufolge auch die Künstlerinnen und Künstler gehören, ist ein wesentlicher Teil der Wertschöpfungskette im Kulturbereich. Ohne Unternehmen der Kultur- und Kreativwirtschaft keine Bücher, keine Kunstverkäufe, keine Rockkonzerte, keine Filme, keine Musikaufnahmen und anderes mehr. Wenn, wie in der Coronapandemie geschehen, so tiefgreifende Eingriffe in einen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Sektor wie den Kultursektor vorgenommen werden, dann gehört es zur selbstverständlichen Pflicht der politisch Verantwortlichen, das Gespräch mit den Branchenvertretern zu suchen und zu führen.

 

Aber noch weitere Aspekte sind den Investigativrechercheuren offenbar verborgen geblieben: NEUSTART KULTUR war von vorneherein in erster Linie als ein Programm für den nicht öffentlich finanzierten Kultursektor geplant. Es sollte den Unternehmen, den Künstlerinnen und Künstlern sowie den Vereinen ermöglichen, in der Pandemie wirtschaftlich zu überleben, die Arbeit, so gut es ging, fortzusetzen und sich vor allem auf den Neustart vorzubereiten. Dass dieser Neustart sehr viel schleppender verlief und nach wie vor vonstattengeht als zum Zeitpunkt der Planung im April 2020, hätte vermutlich niemand gedacht. Wir jedenfalls hatten im Sommer 2020 gehofft, dass es keine erneuten Schließungen von Kulturorten geben würde. Weit gefehlt. Weitere Schließzeiten folgten, weitaus länger und tiefgreifender, als zu Beginn der Pandemie absehbar war.

 

Dass es zu keiner Insolvenzwelle im Kulturbereich kam, wie im Frühjahr 2020 befürchtet wurde, ist auch NEUSTART KULTUR zu verdanken.

 

Zum Dritten versuchen die Journalisten, NEUSTART KULTUR einen Strick daraus zu drehen, dass die Stipendien für Künstlerinnen und Künstler nicht nach sozialen Kriterien vergeben wurden. Dazu ist zuallererst zu sagen, dass es sich bei NEUSTART KULTUR um ein Kulturförderprogramm aus dem Hause der Kulturstaatsministerin handelt. Es ist keine soziale Künstlerförderung wie etwa die beim Bundespräsidenten angesiedelte Deutsche Künstlerhilfe, die im Übrigen im Vergleich zu den hier in Rede stehenden Summen mit einem winzigen Etat auskommen muss. Es ist auch keine soziale Förderung aus dem Bundesarbeitsministerium. Eine Kulturförderung muss zuerst nach künstlerischen Kriterien vergeben werden. Soziale Aspekte können, wenn die Erstentscheidung über die künstlerische Qualität gefallen ist, als weiteres Kriterium herangezogen werden. Bei einigen Programmen war dies auch der Fall.

 

Zum Vierten wird der Versuch unternommen, zu skandalisieren, dass manche Künstlerinnen und Künstler mehrfach Stipendien erhalten haben. Was verwerflich daran sein soll, wenn jemand innerhalb von drei Jahren in der Krise drei Stipendien à 6.000 Euro erhält, erschließt sich uns nicht.

 

Als Fünftes wird die Behauptung in den Raum gestellt, es sei von den Mittel ausreichenden Stellen nicht ausreichend vor der Entscheidung für eine Förderung geprüft worden. Es wird infrage gestellt, dass nach der Verwendung der Förderung noch eine Prüfung stattfindet. So wabert der Verdacht durch die Beiträge, öffentliche Mittel seien verschwendet worden. Das ist natürlich mitnichten der Fall, denn schon bei der Antragstellung muss dargelegt werden, wofür die Mittel verwendet werden sollen. Alle Mittel müssen nach der Verwendung exakt auf Euro und Cent abgerechnet und belegt werden. Es erfolgt in der ersten Stufe eine genaue Prüfung durch die Mittel ausreichenden Stellen, in der zweiten Stufe eine durch das Bundesverwaltungsamt und dann gegebenenfalls noch eine durch den Bundesrechnungshof. Die Mittel vergebenden Stellen müssen im Übrigen – auch dies bleibt unerwähnt – für die ordnungsgemäße Vergabe der Fördermittel geradestehen und gegebenenfalls selbst Rückzahlungen leisten. All dies wird von den Journalisten mit keinem Wort erwähnt.

 

Zum Schluss versteigen sich die Journalisten noch in der Forderung nach mehr Bürokratie und kritisieren gleichzeitig, dass die Mittel ausreichenden Stellen zur Planung und Abwicklung der Programme befristet Personal eingestellt haben. Sehr interessant, dies in einem Sender zu hören, der in der Anfangszeit der Coronapandemie in seinen Sendungen und Interviews immer wieder auf schnelle und unbürokratische Hilfen drängte.

 

Natürlich ist NEUSTART KULTUR keineswegs sakrosankt. Seit der Wiedervereinigung und der Anfang der 1990er Jahre aufgelegten Übergangsfinanzierung hat der Bund nie so viel Geld in die Hand genommen, um Kultur zu unterstützen. Es stellt sich allein mit Blick auf die Summe schon die Frage, was dies für die so viel gepriesene Kulturhoheit der Länder bedeutet. Im Übrigen konnten sich die Länder nicht zu einem gemeinsamen, länderfinanzierten Kulturförderprogramm durchringen, sondern verteilen die Bundesmittel aus dem Sonderfonds des Bundes für Kulturveranstaltungen von Mitte 2021 bis Ende dieses Jahres. Hat sich durch NEUSTART KULTUR das Verhältnis zwischen Bundes- und Landesförderung nachhaltig geändert oder war dies eine neue Form der Übergangsfinanzierung, die wieder verschwindet? Eine Frage, der es sich lohnen würde, nachzugehen.

 

Auch in den 78 Einzelprogrammen wurden von den Mittel ausreichenden Stellen, aber auch in der Kulturszene selbst umfängliche Erfahrungen gesammelt. Was konnte stabilisiert werden? Wo gab es gegebenenfalls ein Überangebot an Förderung? Wo hat sie bitter gefehlt? Haben vor allem die wendigen, digital Affinen profitiert? Was ist mit jenen, die müde wurden, Anträge zu stellen? Wie geht es jenen, die dem Kulturbereich den Rücken gekehrt haben – trotz Förderprogrammen? Welche Förderlinien haben künstlerische Recherchen und damit Zeit zum Ausprobieren ermöglicht? Wird davon mehr gebraucht? Diesen und weiteren Fragen lohnt es sich nach fast drei Jahren Coronapandemie nachzugehen. Die Kulturstaatsministerin hat die Evaluierung des Programms ausgeschrieben. Es ist zu wünschen, dass neben der statistischen Erfassung der Förderung auch solche Fragen beantwortet werden.

 

Beim letzten Treffen der Mittel ausreichenden Stellen, das der Deutsche Kulturrat Ende November ausgerichtet hat, war eine große Bereitschaft und Lust zu verspüren, zu reflektieren, was NEUSTART KULTUR gebracht hat und welche Schlüsse aus diesem Programm für künftige gezogen werden können. Wir freuen uns auf eine freudvolle und sachliche Diskussion hierzu im kommenden Jahr. Festzuhalten bleibt, ein Skandal ist NEUSTART KULTUR jedenfalls nicht.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/22-1/23.

Olaf Zimmermann & Gabriele Schulz
Olaf Zimmermann ist Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates. Gabriele Schulz ist Stellvertretende Geschäftsführerin des Deutschen Kulturrates.
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