Hass in Stein gemeißelt

 

Die juristische Fragestellung ist aber nur ein Aspekt. Schon das Landgericht in Dessau, das als erste die Klage verhandelte, gab der Kirche in der Urteilsbegründung einen Hinweis mit auf den Weg. Man möge gesellschaftlich darüber diskutieren, ob eine Kirche, „die sich auf den Glauben an Jesus Christus, einen Juden, gründet, durch das Festhalten an der bildlichen Darstellung einer ‚Judensau‘ an einer ihrer bedeutendsten Kirchen nicht Gefahr läuft, ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren.“ Diese Diskussion müsse aber in der Gesellschaft geführt werden und begründe für sich genommen keinen Beseitigungsanspruch des Klägers gegenüber der Beklagten.

 

Und diese Diskussion wird mit zunehmender Deutlichkeit geführt. Die Stimmen, die, egal was das Gericht urteilt, für eine Abnahme sprechen, mehren sich. Dazu zählt die des Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung, Felix Klein. Auch hochrangige Vertreter der evangelischen Kirche äußerten sich in ähnlicher Weise. Die Präses der EKD-Synode, Irmgard Schwaetzer, erklärte auf einer Tagung zum Thema: „Meines Erachtens muss das Bild abgenommen werden. Wir würden damit die Gefühle unserer jüdischen Geschwister achten – und das wäre schon ein guter Grund.“ Doch es gehe vor allem darum, „dass wir als evangelische Kirche deutlich dem Antijudaismus widersprechen, der in dieser Plastik zum Ausdruck kommt, zu dem sich Martin Luther aber in den letzten Jahren seines Lebens in seinen Schriften bekannt hat.“ Auch der Landesbischof der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland, Friedrich Kramer, hatte bereits mit Blick auf das Reformationsjubiläum 2017 die Abnahme vorgeschlagen. Das Relief solle aber nicht im Museum verschwinden, sondern vor der Kirche Teil eines weiterentwickelten Mahnmals werden.

 

Doch es gibt auch Gegner der Abnahme, etwa die Stadtkirchengemeinde selber: „Das ist in der Gemeinde nicht mehrheitsfähig“, sagt Johannes Block, der seit 2011 Pfarrer an der Stadtkirche in Wittenberg ist. Nach jüdisch-christlichem Verständnis gibt es keine tadellos perfekte Geschichte, aber die Kraft der Vergebung und Versöhnung, „die selbst aus Bösem Gutes werden lässt“. Allerdings sieht auch Block den Bedarf der „Weiterentwicklung“ der Gedenkstätte. Ähnlich formuliert es der Kulturbeauftragte der EKD, Johann Hinrich Claussen, jüngst in einem Beitrag für die Zeitschrift chrismon: „Ich denke, dass solche ‚Denkmäler‘ an Ort und Stelle bleiben sollten. Sie sollten öffentlich sichtbar sein und zum gemeinsamen Nachdenken und notwendigen Streiten anregen. Dies gilt besonders für den Wittenberg-Fall, wo die Kirchengemeinde eine eigene Gedenkgeschichte besitzt, die man achten muss.“ Allerdings, so Claussen, könnte man sich über die Gestaltung dieses besonderen Erinnerungsortes neue Gedanken machen. „Vielleicht mit einer aktuellen und erweiterten künstlerischen Intervention?“

 

Es wird also etwas passieren an der Wittenberger Stadtkirche. Aber jegliche künstlerische Bearbeitung des Themas muss sich der Kernfrage stellen: Soll die „Judensau“ an der Kirche hängen bleiben oder nicht? Kann es als „Denkmal der Schande“ an der Kirche mehr bewirken als im Museum? Oder ist Kunst an einer Kirche nicht immer auch in Form gegossene Verkündigung, die sehr wohl bis in die Gegenwart hineinreicht? „Es geht bei der Debatte auch um so etwas wie die Gegenwart der Vergangenheit, nicht nur um Vergangenheit“, meint nämlich der Antisemitismusbeauftragte der EKD, Christian Staffa. Gibt es also eine Verbindung zwischen der „Judensau“ an der Kirche und dem gleichlautenden Schimpfwort auf den Schulhöfen der Gegenwart? Wie müsste also ein Mahnmal aussehen, das auch die Rezeptionsgeschichte solcher antisemitischen Kunstwerke wie Judensau, Bildern von „Ecclesia et synagoga“ oder Darstellungen von Cranach zu Gesetz und Evangelium beinhaltet?

 

Staffas Vorschlag erinnert an die Kunst des Verpackungskünstlers Christo: Das an der Kirche befindliche Relief könnte abgedeckt, eine Kopie am Fuße der Kirche aufgestellt und mit anderen künstlerischen Elementen versehen werden. So entstünden eine oder mehrere „experimentelle“ Lösungen, die veränderbar seien. Der Angst der Denkmalschützer vor einem „Bildersturm“, wie ihn die Stadtkirche in der Reformation erlebt hat, würde begegnet, gleichzeitig aber ein deutliches Zeichen gesetzt. Die Verhüllung würde die Distanzierung von der „Judensau“ unübersehbar machen. Gleichzeitig entstünde ein Ort, an dem nichts mehr in Stein gemeißelt ist, sondern festgefügte Positionen sich begegnen und aufweichen können. Wohin dieser Prozess außerhalb der Gerichte dann am Ende führt, bliebe zunächst offen. Aber das spricht wohl eher dafür, sich auf das Wagnis einzulassen.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 03/2020.

Stephan Kosch
Stephan Kosch ist Redakteur der evangelischen Monatszeitschrift zeitzeichen in Berlin.
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