Stephan Kosch - 26. Februar 2020 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Texte zur Kulturpolitik

Hass in Stein gemeißelt


Strenge Sicherheitskontrollen am Eingang, mehrere Fernsehkameras im Verhandlungssaal, rund 60 Besucher in den Stuhlreihen, darunter zahlreiche Pressevertreter. Volker Buchloh, Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht in Naumburg an der Saale, hat so ein öffentliches Interesse bislang nicht erlebt. Dabei ging es an diesem Tag um die Arbeit eines unbekannten Bildhauers, die schon seit über 700 Jahren der Öffentlichkeit zugänglich ist. Und darum, ob die „Judensau“ genannte Schmähplastik an der Wittenberger Stadtkirche noch immer eine Beleidigung der Juden darstellt oder nicht. Damit stellt sich auch die Frage, wie die Kirchen mit ihrem antijüdischen Erbe umgehen – ganz unabhängig von dem juristischen Verfahren um die Wittenberger Sau, das bald auch den Bundesgerichtshof in Karlsruhe beschäftigen wird.

 

Stein des Anstoßes ist ein Sandsteinrelief, das seit etwa 1305 an der Außenfassade der Wittenberger Stadtkirche, der einstigen Predigtstätte Martin Luthers, hängt. Es stellt ein Schwein dar, an dessen Zitzen Juden saugen. Ein Rabbiner hebt mit der Hand den Schwanz der Sau und blickt ihr in den After. Das Relief wurde um 1570 im Zuge der Neugestaltung der Kirche versetzt und mit den Worten „Rabini Schem Ha Mphoras“ versehen, ein Verweis auf Luthers judenfeindliche Schrift „Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi“ aus dem Jahr 1543. Das Relief ist somit nicht nur Teil der unseligen Tradition von „Judensauen“, wie sie in etwa 30 Kirchen im deutschsprachigen Raum zu finden sind. Es ist Ausdruck des Antijudaismus, der Luther und anderen Reformatoren zu eigen war.

 

Im Umfeld der Jubiläumsfeier zu Luthers 500. Geburtstag 1983 wurde die Kirche und mit ihr das Relief saniert. Das sorgte für Diskussionen in der Stadtkirchengemeinde, erinnert sich Gottfried Keller, der von 1985 bis 1998 einer der Pfarrer der Gemeinde war. „Die Junge Gemeinde hat die Meinung vertreten, dass das Relief abgenommen werden müsse, in der Gemeinde gab es dazu unterschiedliche Standpunkte.“ Am Ende der Diskussion war klar: Das Relief bleibt hängen, sollte aber nicht mehr unkommentiert an der Fassade bleiben.

 

Seit 1988 setzt vor der Kirchenmauer unterhalb des Reliefs eine Bodenplatte, gestaltet vom Bildhauer Wieland Schmiedel, einen Kontrapunkt. Sie besteht aus Trittplatten, die etwas verdecken sollen, was nicht zu verdrängen ist und das aus den Fugen quillt, die ein Kreuz ergeben. Umrahmt wird das alles von einem Text des Schriftstellers Jürgen Rennert: „Gottes eigentlicher Name, der geschmähte Schem Ha Mphoras, den die Juden vor den Christen fast unsagbar heilig hielten, starb in sechs Millionen Juden unter einem Kreuzeszeichen.“ Zudem erläutert eine Tafel auf einer Stele den Hintergrund des Reliefs und des Mahnmals.

 

Michael Düllmann, der in den 1970er Jahren nach einem mehrjährigen Aufenthalt in einem israelischen Kibbuz zum Judentum konvertiert war, reicht das nicht. Er fordert von der Stadtkirchengemeinde in Wittenberg die Abnahme der Plastik und ihre Ausstellung in einem Museum. Der weißhaarige schlanke Mann war mit seinem Anliegen bereits vor dem Landgericht in Dessau-Roßlau gescheitert, zeigte sich aber im Revisionsverfahren in Naumburg kämpferisch. „Die Judensau macht mich zum Saujuden. Dafür mache ich Sie verantwortlich!“, rief er den Vertretern der Stadtkirchengemeinde zu. Das Bodendenkmal ändere daran nichts, es verfälsche vielmehr die Shoah-Geschichte. Die Juden seien nicht gestorben, sondern ermordet worden. Und es sei nicht das Kreuzeszeichen, sondern der Davidstern gewesen, den die Juden hätten tragen müssen. „Sie okkupieren Juden als christliche Märtyrer, schämen Sie sich!“

 

Die Stadtkirchengemeinde verwies erneut darauf, dass sie die Plastik „geerbt“ habe und damit umgehen müsse. „Es gibt niemanden, der diese Plastik gut findet“, sagte Pfarrer Johannes Block. Würde sie aber abgenommen, könnte man der Gemeinde eine Verfälschung der Geschichte vorwerfen. Deshalb wolle die Kirchengemeinde „mit dem Originalstück an die Geschichte erinnern“ und die Gedenkstätte unter Beteiligung jüdischer Mitbürger weiterentwickeln.

 

Doch auch die bereits bestehende Einbettung reichte dem Gericht, um die Klage Düllmanns erneut abzuweisen. Richter Buchloh machte bereits zu Beginn der mündlichen Verhandlung klar, dass das Relief für sich genommen „eine Herabwürdigung der Juden“ darstelle. Allerdings bedürfe es der Auslegung, „ob das ganze Ensemble“, also „Judensau“, die Bodenplatte und die Stele „objektiv als Beleidigung gesehen werden kann“. Durch die Einbettung des Reliefs in den Kontext einer Gedenkstätte sei der Tatbestand der Beleidigung nicht mehr gegeben. Im später gesprochenen Urteil bestätigte das Gericht diese Auffassung. Eine Revision vor dem Bundesgerichtshof, ließ es aber zu, was der Kläger Michael Düllmann als Erfolg wertet: „Der Stein, den ich ins Wasser geworfen habe, zieht weite Kreise. Es geht weiter.“ Er will sein Anliegen, wenn nötig, bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte tragen.

 

Die juristische Fragestellung ist aber nur ein Aspekt. Schon das Landgericht in Dessau, das als erste die Klage verhandelte, gab der Kirche in der Urteilsbegründung einen Hinweis mit auf den Weg. Man möge gesellschaftlich darüber diskutieren, ob eine Kirche, „die sich auf den Glauben an Jesus Christus, einen Juden, gründet, durch das Festhalten an der bildlichen Darstellung einer ‚Judensau‘ an einer ihrer bedeutendsten Kirchen nicht Gefahr läuft, ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren.“ Diese Diskussion müsse aber in der Gesellschaft geführt werden und begründe für sich genommen keinen Beseitigungsanspruch des Klägers gegenüber der Beklagten.

 

Und diese Diskussion wird mit zunehmender Deutlichkeit geführt. Die Stimmen, die, egal was das Gericht urteilt, für eine Abnahme sprechen, mehren sich. Dazu zählt die des Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung, Felix Klein. Auch hochrangige Vertreter der evangelischen Kirche äußerten sich in ähnlicher Weise. Die Präses der EKD-Synode, Irmgard Schwaetzer, erklärte auf einer Tagung zum Thema: „Meines Erachtens muss das Bild abgenommen werden. Wir würden damit die Gefühle unserer jüdischen Geschwister achten – und das wäre schon ein guter Grund.“ Doch es gehe vor allem darum, „dass wir als evangelische Kirche deutlich dem Antijudaismus widersprechen, der in dieser Plastik zum Ausdruck kommt, zu dem sich Martin Luther aber in den letzten Jahren seines Lebens in seinen Schriften bekannt hat.“ Auch der Landesbischof der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland, Friedrich Kramer, hatte bereits mit Blick auf das Reformationsjubiläum 2017 die Abnahme vorgeschlagen. Das Relief solle aber nicht im Museum verschwinden, sondern vor der Kirche Teil eines weiterentwickelten Mahnmals werden.

 

Doch es gibt auch Gegner der Abnahme, etwa die Stadtkirchengemeinde selber: „Das ist in der Gemeinde nicht mehrheitsfähig“, sagt Johannes Block, der seit 2011 Pfarrer an der Stadtkirche in Wittenberg ist. Nach jüdisch-christlichem Verständnis gibt es keine tadellos perfekte Geschichte, aber die Kraft der Vergebung und Versöhnung, „die selbst aus Bösem Gutes werden lässt“. Allerdings sieht auch Block den Bedarf der „Weiterentwicklung“ der Gedenkstätte. Ähnlich formuliert es der Kulturbeauftragte der EKD, Johann Hinrich Claussen, jüngst in einem Beitrag für die Zeitschrift chrismon: „Ich denke, dass solche ‚Denkmäler‘ an Ort und Stelle bleiben sollten. Sie sollten öffentlich sichtbar sein und zum gemeinsamen Nachdenken und notwendigen Streiten anregen. Dies gilt besonders für den Wittenberg-Fall, wo die Kirchengemeinde eine eigene Gedenkgeschichte besitzt, die man achten muss.“ Allerdings, so Claussen, könnte man sich über die Gestaltung dieses besonderen Erinnerungsortes neue Gedanken machen. „Vielleicht mit einer aktuellen und erweiterten künstlerischen Intervention?“

 

Es wird also etwas passieren an der Wittenberger Stadtkirche. Aber jegliche künstlerische Bearbeitung des Themas muss sich der Kernfrage stellen: Soll die „Judensau“ an der Kirche hängen bleiben oder nicht? Kann es als „Denkmal der Schande“ an der Kirche mehr bewirken als im Museum? Oder ist Kunst an einer Kirche nicht immer auch in Form gegossene Verkündigung, die sehr wohl bis in die Gegenwart hineinreicht? „Es geht bei der Debatte auch um so etwas wie die Gegenwart der Vergangenheit, nicht nur um Vergangenheit“, meint nämlich der Antisemitismusbeauftragte der EKD, Christian Staffa. Gibt es also eine Verbindung zwischen der „Judensau“ an der Kirche und dem gleichlautenden Schimpfwort auf den Schulhöfen der Gegenwart? Wie müsste also ein Mahnmal aussehen, das auch die Rezeptionsgeschichte solcher antisemitischen Kunstwerke wie Judensau, Bildern von „Ecclesia et synagoga“ oder Darstellungen von Cranach zu Gesetz und Evangelium beinhaltet?

 

Staffas Vorschlag erinnert an die Kunst des Verpackungskünstlers Christo: Das an der Kirche befindliche Relief könnte abgedeckt, eine Kopie am Fuße der Kirche aufgestellt und mit anderen künstlerischen Elementen versehen werden. So entstünden eine oder mehrere „experimentelle“ Lösungen, die veränderbar seien. Der Angst der Denkmalschützer vor einem „Bildersturm“, wie ihn die Stadtkirche in der Reformation erlebt hat, würde begegnet, gleichzeitig aber ein deutliches Zeichen gesetzt. Die Verhüllung würde die Distanzierung von der „Judensau“ unübersehbar machen. Gleichzeitig entstünde ein Ort, an dem nichts mehr in Stein gemeißelt ist, sondern festgefügte Positionen sich begegnen und aufweichen können. Wohin dieser Prozess außerhalb der Gerichte dann am Ende führt, bliebe zunächst offen. Aber das spricht wohl eher dafür, sich auf das Wagnis einzulassen.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 03/2020.


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