Hass in Stein gemeißelt

Strenge Sicherheitskontrollen am Eingang, mehrere Fernsehkameras im Verhandlungssaal, rund 60 Besucher in den Stuhlreihen, darunter zahlreiche Pressevertreter. Volker Buchloh, Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht in Naumburg an der Saale, hat so ein öffentliches Interesse bislang nicht erlebt. Dabei ging es an diesem Tag um die Arbeit eines unbekannten Bildhauers, die schon seit über 700 Jahren der Öffentlichkeit zugänglich ist. Und darum, ob die „Judensau“ genannte Schmähplastik an der Wittenberger Stadtkirche noch immer eine Beleidigung der Juden darstellt oder nicht. Damit stellt sich auch die Frage, wie die Kirchen mit ihrem antijüdischen Erbe umgehen – ganz unabhängig von dem juristischen Verfahren um die Wittenberger Sau, das bald auch den Bundesgerichtshof in Karlsruhe beschäftigen wird.

 

Stein des Anstoßes ist ein Sandsteinrelief, das seit etwa 1305 an der Außenfassade der Wittenberger Stadtkirche, der einstigen Predigtstätte Martin Luthers, hängt. Es stellt ein Schwein dar, an dessen Zitzen Juden saugen. Ein Rabbiner hebt mit der Hand den Schwanz der Sau und blickt ihr in den After. Das Relief wurde um 1570 im Zuge der Neugestaltung der Kirche versetzt und mit den Worten „Rabini Schem Ha Mphoras“ versehen, ein Verweis auf Luthers judenfeindliche Schrift „Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi“ aus dem Jahr 1543. Das Relief ist somit nicht nur Teil der unseligen Tradition von „Judensauen“, wie sie in etwa 30 Kirchen im deutschsprachigen Raum zu finden sind. Es ist Ausdruck des Antijudaismus, der Luther und anderen Reformatoren zu eigen war.

 

Im Umfeld der Jubiläumsfeier zu Luthers 500. Geburtstag 1983 wurde die Kirche und mit ihr das Relief saniert. Das sorgte für Diskussionen in der Stadtkirchengemeinde, erinnert sich Gottfried Keller, der von 1985 bis 1998 einer der Pfarrer der Gemeinde war. „Die Junge Gemeinde hat die Meinung vertreten, dass das Relief abgenommen werden müsse, in der Gemeinde gab es dazu unterschiedliche Standpunkte.“ Am Ende der Diskussion war klar: Das Relief bleibt hängen, sollte aber nicht mehr unkommentiert an der Fassade bleiben.

 

Seit 1988 setzt vor der Kirchenmauer unterhalb des Reliefs eine Bodenplatte, gestaltet vom Bildhauer Wieland Schmiedel, einen Kontrapunkt. Sie besteht aus Trittplatten, die etwas verdecken sollen, was nicht zu verdrängen ist und das aus den Fugen quillt, die ein Kreuz ergeben. Umrahmt wird das alles von einem Text des Schriftstellers Jürgen Rennert: „Gottes eigentlicher Name, der geschmähte Schem Ha Mphoras, den die Juden vor den Christen fast unsagbar heilig hielten, starb in sechs Millionen Juden unter einem Kreuzeszeichen.“ Zudem erläutert eine Tafel auf einer Stele den Hintergrund des Reliefs und des Mahnmals.

 

Michael Düllmann, der in den 1970er Jahren nach einem mehrjährigen Aufenthalt in einem israelischen Kibbuz zum Judentum konvertiert war, reicht das nicht. Er fordert von der Stadtkirchengemeinde in Wittenberg die Abnahme der Plastik und ihre Ausstellung in einem Museum. Der weißhaarige schlanke Mann war mit seinem Anliegen bereits vor dem Landgericht in Dessau-Roßlau gescheitert, zeigte sich aber im Revisionsverfahren in Naumburg kämpferisch. „Die Judensau macht mich zum Saujuden. Dafür mache ich Sie verantwortlich!“, rief er den Vertretern der Stadtkirchengemeinde zu. Das Bodendenkmal ändere daran nichts, es verfälsche vielmehr die Shoah-Geschichte. Die Juden seien nicht gestorben, sondern ermordet worden. Und es sei nicht das Kreuzeszeichen, sondern der Davidstern gewesen, den die Juden hätten tragen müssen. „Sie okkupieren Juden als christliche Märtyrer, schämen Sie sich!“

 

Die Stadtkirchengemeinde verwies erneut darauf, dass sie die Plastik „geerbt“ habe und damit umgehen müsse. „Es gibt niemanden, der diese Plastik gut findet“, sagte Pfarrer Johannes Block. Würde sie aber abgenommen, könnte man der Gemeinde eine Verfälschung der Geschichte vorwerfen. Deshalb wolle die Kirchengemeinde „mit dem Originalstück an die Geschichte erinnern“ und die Gedenkstätte unter Beteiligung jüdischer Mitbürger weiterentwickeln.

 

Doch auch die bereits bestehende Einbettung reichte dem Gericht, um die Klage Düllmanns erneut abzuweisen. Richter Buchloh machte bereits zu Beginn der mündlichen Verhandlung klar, dass das Relief für sich genommen „eine Herabwürdigung der Juden“ darstelle. Allerdings bedürfe es der Auslegung, „ob das ganze Ensemble“, also „Judensau“, die Bodenplatte und die Stele „objektiv als Beleidigung gesehen werden kann“. Durch die Einbettung des Reliefs in den Kontext einer Gedenkstätte sei der Tatbestand der Beleidigung nicht mehr gegeben. Im später gesprochenen Urteil bestätigte das Gericht diese Auffassung. Eine Revision vor dem Bundesgerichtshof, ließ es aber zu, was der Kläger Michael Düllmann als Erfolg wertet: „Der Stein, den ich ins Wasser geworfen habe, zieht weite Kreise. Es geht weiter.“ Er will sein Anliegen, wenn nötig, bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte tragen.

Stephan Kosch
Stephan Kosch ist Redakteur der evangelischen Monatszeitschrift zeitzeichen in Berlin.
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