Erinnern, verstehen, gestalten

Jüdisches Leben in Deutschland sichtbarer machen

Jüdisches Leben in Lübeck war fortan nicht mehr möglich. Wir alle kennen die grausame Geschichte. Am 1. Juni 1945 erfolgte dann zwar die Rückerstattung an die jüdische Gemeinde und die erneute Weihung, aber bis in die 1990er Jahre war die Nutzung der Synagoge sehr eingeschränkt, denn es gab nur sehr wenige Juden in Lübeck.

 

Kurz nachdem sich eine erste kleine jüdische Gemeinde wieder in Lübeck etabliert hatte und kurz nachdem die Synagoge unter Denkmalschutz gestellt wurde, erfolgte die nächste Bewährungsprobe: ein Brandanschlag mit einem Molotowcocktail am 25. März 1994 – der erste Brandanschlag auf eine Synagoge in Deutschland seit der Pogromnacht im Jahr 1938. Schon im Mai 1995 kam es zu einem weiteren Brandanschlag. Das zeigt: Antisemitismus war und ist immer da gewesen.

 

Deshalb darf es uns auch nicht überraschen, dass es sie heute wieder gibt: Menschen, Gruppierungen und leider auch Parteien, die andere Menschen wegen ihrer Herkunft oder Religion selektieren. Die ausgrenzen und hetzen.

 

Wir brauchen eine lebendige Form der Erinnerung. Eine Form, die unserer historischen Verantwortung gerecht wird, aber die nachfolgenden Generationen vor Schuldverstrickungen bewahrt. Eine Form, die Mut macht, Empathie schafft und Neugier weckt: auf ein neues Miteinander, auf den kulturellen Reichtum in unserem Land, auf Vielfalt.

 

Die Carlebach-Synagoge ist ein Ort, der uns diese Form des Erinnerns ermöglicht. Sie ist mit ihren prunkvollen Malereien Zeugnis der jüdischen Kultur des 19. Jahrhunderts. Sie ist Erinnerungsort an Gewalt und Zerstörung im 20. Jahrhundert. Aber sie ist auch ein Ort der Hoffnung für eine neu erblühende jüdische Kultur in Schleswig-Holstein im 21. Jahrhundert.

 

Am 2. April 2020 sollte die Fertigstellung der Synagoge mit einem großen Festakt gefeiert werden. Ein historischer Tag – für Schleswig-Holstein und auch über unsere Landesgrenzen hinaus.

 

Durch die Corona-Pandemie musste dieser Festakt verschoben werden – wie so vieles in den letzten Monaten. Der gesellschaftliche Shutdown hat uns neben vielen verschobenen oder ausgefallenen Veranstaltungen aber auch einen Moment des Innehaltens geschenkt. Wir konnten uns wieder auf die wirklich wichtigen Dinge im Leben besinnen: Zusammenhalt, im Kleinen wie im Großen. Wir haben für unsere älteren Nachbarn eingekauft und unsere Kliniken haben schwer kranke Patienten aus Italien und Frankreich aufgenommen.

 

Empathie, Solidarität, Respekt und Mitgefühl sind die Werte, die uns durch diese schwere Zeit getragen haben und uns auch noch weiterhin tragen werden.

 

Die Populisten in der ganzen Welt konnten in der Krise außer Verschwörungstheorien nichts beitragen. Sie haben keine Antworten gegeben. Gleichzeitig haben in Deutschland viele Politikerinnen und Politiker auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene Verantwortung übernommen – und damit Vertrauen geschaffen. Auch wenn jede Entscheidung in der Regel eine Gegenmeinung hervorruft, können wir feststellen, dass Deutschland bisher gut durch diese Pandemie gekommen ist.

 

Das verdanken wir auch unseren hervorragenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die nicht nur exzellente Forschung betreiben, sondern die Bevölkerung auf unaufgeregte und sachliche Weise aufgeklärt haben. Die Wissenschaft hat in den letzten Monaten auf die öffentliche Meinung erheblich an Einfluss gewonnen. Wenn es um die wirklich wichtigen Fragen geht, brauchen wir keine Hetze, sondern Verlässlichkeit.
Nutzen wir diese Chance für mehr Sachlichkeit, für mehr Zusammenhalt und weniger Spaltung. Das Miteinander sollte wieder in den Fokus rücken.
Wir wissen, dass es Antisemitismus immer geben wird. Aber wenn wir zusammenhalten und gemeinsam unsere Stimme gegen jede Art von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit erheben, sind wir stärker – und lauter.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2020.

Karin Prien
Karin Prien ist Ministerin für Bildung, Wissenschaft und Kultur des Landes Schleswig-Holstein.
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