Ein Recht auf Kultur

Die Eckpfeiler der Kulturnation Frankreich

Kultur ist ein wichtiger Eckpfeiler der französischen Identität, und der Schutz und die Förderung der französischen Sprache sowie der Kultur haben einen herausragenden politischen Stellenwert. Unter dem Schlagwort der kulturellen Ausnahme, der „exception culturelle“, wurde 1993 eine explizit protektionistische Kulturpolitik gesetzlich verankert. Das Gesetz besagt, dass Kulturprodukte und -dienstleistungen nicht wie normale Handelsgüter behandelt werden dürfen, sondern unter besonderem staatlichem Schutz stehen. So ist die öffentliche Filmförderung in Frankreich bis heute weltweit einzigartig.

 

Das 1959 von Charles de Gaulle etablierte Kulturministerium, dessen Hauptsitz sich im Palais-Royal in der Rue de Valois befindet, ist ein sehr prestigeträchtiges Ressort. Der erste Amtsinhaber, der Schriftsteller André Malraux, hebt im Gründungserlass vom 24. Juli 1959 hervor, eine zentrale Aufgabe des Ministeriums bestehe darin, einer möglichst großen Zahl von Bürgerinnen und Bürgern den Zugang zu Kunst und Kultur zu ermöglichen. Dieses Prinzip des „Rechts auf Kultur“ zieht sich wie ein roter Faden durch die französische Kulturpolitik und Kulturförderung und wurde am 24. Juli 2019 bei einem Festakt anlässlich des 60. Geburtstags des Ministeriums von Präsident Emmanuel Macron erneut bekräftigt. Das Kulturministerium hat bei der Umsetzung des Ziels der umfassenden kulturellen Teilhabe der Französinnen und Franzosen eine Schlüsselrolle. Zwar wurden nach den Dezentralisierungsgesetzen von 1982 auch im Kultursektor die Bemühungen um Kompetenzverlagerungen verstärkt, doch die „Rue de Valois“, so die gängige Bezeichnung des Ministeriums, stellt nach wie vor 53 Prozent der öffentlichen Kulturausgaben bereit. Auf die Kommunen entfallen 36 Prozent, und die übrigen 11 Prozent werden von den „départements“ und Regionen zur Verfügung gestellt.

 

Die französischen Kulturminister sind Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die in den Medien große Beachtung finden. Es wird erwartet, dass sie sich sachkundig und geistreich in kulturelle Diskurse einbringen. Einer der bedeutendsten Minister, der charismatische Jacques Lang, der im Kabinett von François Mitterrand das Amt gleich zweimal von 1981 bis 1986 und von 1988 bis 1993 innehatte, ist bis heute in kulturellen Angelegenheiten ein gefragter Gesprächspartner.

 

Belesenheit und Kulturaffinität sind in Frankreich nicht nur für die Kulturminister relevant. Auch bei den Staatspräsidenten wirkt es sich positiv auf ihr Image aus, wenn sie fundierte Kulturkenntnisse vorweisen können. Und es hat Tradition, dass sich die Staatschefs direkt in die Kulturpolitik einmischen. Besonders augenfällig manifestiert sich dies darin, dass fast alle Präsidenten der Nachkriegszeit bedeutende Architekten beauftragt haben, neue Kulturbauten zu errichten. Markante Beispiele sind etwa der von François Mitterrand angestoßene Neubau der Bibliothèque nationale de France oder das von Jacques Chirac initiierte Musée du Quai Branly. Georges Pompidou hat nicht nur veranlasst, dass das berühmte, nach ihm benannte Kunstzentrum neue architektonische Maßstäbe setzte, sondern er gab auch die bis heute im Buchhandel erhältliche Lyrikanthologie „Anthologie de la poésie française“ heraus und lud den avantgardistischen Designer Pierre Paulin ein, die Inneneinrichtung des Elysée-Palasts zeitgemäß zu modernisieren.

 

Emmanuel Macron setzt diese Tradition fort. Zwar kündigte er gleich zu Beginn seiner Amtszeit an, dass er keinen neuen Kulturbau errichten wolle, doch er brachte sich von Anfang an aktiv in die französische Kulturpolitik ein. Inspiriert durch ein ähnliches Projekt in Italien, führte er zum Beispiel einen Kulturpass, den „pass Culture“, ein, der jungen Erwachsenen den Zugang zur Kultur erleichtern soll. Jugendliche können, sobald sie 18 Jahre alt werden, über eine vom Kulturministerium verwaltete Internetplattform ein für ein Jahr gültiges Guthaben in Höhe von 500 Euro beantragen, das sie für unterschiedliche kulturelle Produkte und Veranstaltungen einsetzen können. Der Kulturpass wurde ab Februar 2019 zunächst in fünf „départements“ erprobt. Zum 1. Juni 2019 wurden 14 weitere „départements“ in die Erprobungsphase einbezogen. Nach Angaben des Kulturministeriums wurde der Kulturpass zwischen Februar und Ende Juni 2019 über 16.000 Mal genutzt, vor allem für den Kauf von Büchern (fast 6.000 Bestellungen), den Erwerb von Eintrittskarten für Konzerte und Musikfestivals (über 2.600 Buchungen) und das Herunterladen von kostenpflichtigen Internetangeboten in den Bereichen Musik (über 1.700 Buchungen) und Video (über 1.500 Buchungen). Der Kulturpass ist die vielleicht wichtigste kulturpolitische Neuerung der aktuellen Regierung und soll nun zügig auf alle „départements“ ausgeweitet werden.

 

Ein zweites von Macron angestoßenes kulturpolitisches Projekt, das nicht nur in Frankreich großes Aufsehen erregte und intensive Diskussionen auslöste, betrifft den Umgang mit Kulturgütern aus den ehemaligen französischen Kolonien in Subsahara, Afrika. Der Staatspräsident beauftragte den senegalesischen Ökonomen Felwine Sarr und die französische Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy, einen Bericht über Möglichkeiten und Kriterien der Restitution afrikanischen Kulturguts zu erarbeiten. Der Bericht wurde im November 2018 vorgelegt; die deutsche Übersetzung erschien 2019 unter dem Titel „Zurückgeben: Über die Restitution afrikanischer Kulturgüter“. Sarr und Savoy empfehlen, alle unrechtmäßig erworbenen Artefakte unverzüglich und endgültig an die ehemaligen Kolonien in Afrika zurückzugeben. Diese Empfehlung wird von vielen begrüßt, stößt aber mitunter auch auf Kritik. Mittlerweile gibt es in Frankreich eine gewisse Stagnation in der Frage, welche konkreten Konsequenzen nun zu ziehen sind. So ist unklar, wann und in welcher Form Macrons Entscheidung, 26 Bronzen an Benin zu restituieren, in die Praxis umgesetzt wird. Gleichwohl hat die Initiative des französischen Staatspräsidenten bewirkt, dass das Thema der Rückführung von Kulturobjekten aus kolonialem Kontext heute nicht nur in Frankreich, sondern auch in vielen anderen europäischen Ländern auf der politischen Agenda ganz oben steht.

Barbara Honrath
Barbara Honrath ist Direktorin des Goethe-Instituts Frankreich.
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