Barbara Honrath - 20. November 2019 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Texte zur Kulturpolitik

Ein Recht auf Kultur


Die Eckpfeiler der Kulturnation Frankreich

Kultur ist ein wichtiger Eckpfeiler der französischen Identität, und der Schutz und die Förderung der französischen Sprache sowie der Kultur haben einen herausragenden politischen Stellenwert. Unter dem Schlagwort der kulturellen Ausnahme, der „exception culturelle“, wurde 1993 eine explizit protektionistische Kulturpolitik gesetzlich verankert. Das Gesetz besagt, dass Kulturprodukte und -dienstleistungen nicht wie normale Handelsgüter behandelt werden dürfen, sondern unter besonderem staatlichem Schutz stehen. So ist die öffentliche Filmförderung in Frankreich bis heute weltweit einzigartig.

 

Das 1959 von Charles de Gaulle etablierte Kulturministerium, dessen Hauptsitz sich im Palais-Royal in der Rue de Valois befindet, ist ein sehr prestigeträchtiges Ressort. Der erste Amtsinhaber, der Schriftsteller André Malraux, hebt im Gründungserlass vom 24. Juli 1959 hervor, eine zentrale Aufgabe des Ministeriums bestehe darin, einer möglichst großen Zahl von Bürgerinnen und Bürgern den Zugang zu Kunst und Kultur zu ermöglichen. Dieses Prinzip des „Rechts auf Kultur“ zieht sich wie ein roter Faden durch die französische Kulturpolitik und Kulturförderung und wurde am 24. Juli 2019 bei einem Festakt anlässlich des 60. Geburtstags des Ministeriums von Präsident Emmanuel Macron erneut bekräftigt. Das Kulturministerium hat bei der Umsetzung des Ziels der umfassenden kulturellen Teilhabe der Französinnen und Franzosen eine Schlüsselrolle. Zwar wurden nach den Dezentralisierungsgesetzen von 1982 auch im Kultursektor die Bemühungen um Kompetenzverlagerungen verstärkt, doch die „Rue de Valois“, so die gängige Bezeichnung des Ministeriums, stellt nach wie vor 53 Prozent der öffentlichen Kulturausgaben bereit. Auf die Kommunen entfallen 36 Prozent, und die übrigen 11 Prozent werden von den „départements“ und Regionen zur Verfügung gestellt.

 

Die französischen Kulturminister sind Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die in den Medien große Beachtung finden. Es wird erwartet, dass sie sich sachkundig und geistreich in kulturelle Diskurse einbringen. Einer der bedeutendsten Minister, der charismatische Jacques Lang, der im Kabinett von François Mitterrand das Amt gleich zweimal von 1981 bis 1986 und von 1988 bis 1993 innehatte, ist bis heute in kulturellen Angelegenheiten ein gefragter Gesprächspartner.

 

Belesenheit und Kulturaffinität sind in Frankreich nicht nur für die Kulturminister relevant. Auch bei den Staatspräsidenten wirkt es sich positiv auf ihr Image aus, wenn sie fundierte Kulturkenntnisse vorweisen können. Und es hat Tradition, dass sich die Staatschefs direkt in die Kulturpolitik einmischen. Besonders augenfällig manifestiert sich dies darin, dass fast alle Präsidenten der Nachkriegszeit bedeutende Architekten beauftragt haben, neue Kulturbauten zu errichten. Markante Beispiele sind etwa der von François Mitterrand angestoßene Neubau der Bibliothèque nationale de France oder das von Jacques Chirac initiierte Musée du Quai Branly. Georges Pompidou hat nicht nur veranlasst, dass das berühmte, nach ihm benannte Kunstzentrum neue architektonische Maßstäbe setzte, sondern er gab auch die bis heute im Buchhandel erhältliche Lyrikanthologie „Anthologie de la poésie française“ heraus und lud den avantgardistischen Designer Pierre Paulin ein, die Inneneinrichtung des Elysée-Palasts zeitgemäß zu modernisieren.

 

Emmanuel Macron setzt diese Tradition fort. Zwar kündigte er gleich zu Beginn seiner Amtszeit an, dass er keinen neuen Kulturbau errichten wolle, doch er brachte sich von Anfang an aktiv in die französische Kulturpolitik ein. Inspiriert durch ein ähnliches Projekt in Italien, führte er zum Beispiel einen Kulturpass, den „pass Culture“, ein, der jungen Erwachsenen den Zugang zur Kultur erleichtern soll. Jugendliche können, sobald sie 18 Jahre alt werden, über eine vom Kulturministerium verwaltete Internetplattform ein für ein Jahr gültiges Guthaben in Höhe von 500 Euro beantragen, das sie für unterschiedliche kulturelle Produkte und Veranstaltungen einsetzen können. Der Kulturpass wurde ab Februar 2019 zunächst in fünf „départements“ erprobt. Zum 1. Juni 2019 wurden 14 weitere „départements“ in die Erprobungsphase einbezogen. Nach Angaben des Kulturministeriums wurde der Kulturpass zwischen Februar und Ende Juni 2019 über 16.000 Mal genutzt, vor allem für den Kauf von Büchern (fast 6.000 Bestellungen), den Erwerb von Eintrittskarten für Konzerte und Musikfestivals (über 2.600 Buchungen) und das Herunterladen von kostenpflichtigen Internetangeboten in den Bereichen Musik (über 1.700 Buchungen) und Video (über 1.500 Buchungen). Der Kulturpass ist die vielleicht wichtigste kulturpolitische Neuerung der aktuellen Regierung und soll nun zügig auf alle „départements“ ausgeweitet werden.

 

Ein zweites von Macron angestoßenes kulturpolitisches Projekt, das nicht nur in Frankreich großes Aufsehen erregte und intensive Diskussionen auslöste, betrifft den Umgang mit Kulturgütern aus den ehemaligen französischen Kolonien in Subsahara, Afrika. Der Staatspräsident beauftragte den senegalesischen Ökonomen Felwine Sarr und die französische Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy, einen Bericht über Möglichkeiten und Kriterien der Restitution afrikanischen Kulturguts zu erarbeiten. Der Bericht wurde im November 2018 vorgelegt; die deutsche Übersetzung erschien 2019 unter dem Titel „Zurückgeben: Über die Restitution afrikanischer Kulturgüter“. Sarr und Savoy empfehlen, alle unrechtmäßig erworbenen Artefakte unverzüglich und endgültig an die ehemaligen Kolonien in Afrika zurückzugeben. Diese Empfehlung wird von vielen begrüßt, stößt aber mitunter auch auf Kritik. Mittlerweile gibt es in Frankreich eine gewisse Stagnation in der Frage, welche konkreten Konsequenzen nun zu ziehen sind. So ist unklar, wann und in welcher Form Macrons Entscheidung, 26 Bronzen an Benin zu restituieren, in die Praxis umgesetzt wird. Gleichwohl hat die Initiative des französischen Staatspräsidenten bewirkt, dass das Thema der Rückführung von Kulturobjekten aus kolonialem Kontext heute nicht nur in Frankreich, sondern auch in vielen anderen europäischen Ländern auf der politischen Agenda ganz oben steht.

 

Ein weiterer wichtiger Schwerpunkt der französischen Kulturpolitik ist die Vertiefung der kulturellen Zusammenarbeit in Europa. In einer richtungweisenden Rede über die Zukunft Europas, die er am 26. September 2017 an der Sorbonne hielt, hob Emmanuel Macron hervor: „Was Europa am stärksten zusammenhält, werden immer die Kultur und das Wissen sein.“ Unter anderem schlug er vor, europäische Universitäten einzurichten und durch Austauschprogramme für Studierende und Auszubildende die Mehrsprachigkeit zu fördern. Im Rahmen der europäischen kulturellen Kooperation hat gerade der Austausch Frankreichs mit dem von Macron als „wichtigstem Partnerland“ bezeichneten Deutschland einen hohen Stellenwert. Das wurde auch im „Vertrag über die deutsch-französische Zusammenarbeit und Integration“ betont, den Emmanuel Macron und Angela Merkel am 22. Januar 2019 in Aachen unterzeichneten.

 

Aufgrund der großen Bedeutung des deutsch-französischen Kulturdialogs gibt es zahlreiche Anknüpfungspunkte für die Arbeit des Goethe-Instituts, das in Frankreich an acht Standorten präsent ist: Bordeaux, Lille, Lyon, Marseille, Nancy, Paris, Straßburg und Toulouse. In enger Zusammenarbeit mit französischen Partnern sowie anderen Akteuren der deutschen Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik, etwa dem Deutsch-Französischen Jugendwerk oder den zwölf deutsch-französischen Kulturgesellschaften, initiiert und vertieft das Goethe-Institut den Austausch über Themen, die in beiden Ländern relevant sind. Abgesehen von globalen Herausforderungen wie Klimakrise oder digitalem Wandel zählen hierzu etwa die Weiterentwicklung Europas, Strukturveränderungen in westlichen Gesellschaften, urbane Transformationsprozesse oder der Umgang mit populistischen Strömungen. Gleichzeitig ermöglichen die Goethe-Institute in Frankreich vielfältige persönliche Begegnungen und Kooperationen zwischen kulturellen Akteuren aus Deutschland und Frankreich, die das lokale Kulturangebot bereichern und auf interessante Trends und Projekte aus Deutschland aufmerksam machen. In diesem Jahr realisieren sie zum Beispiel Ausstellungen, Filmvorführungen und Podiumsgespräche zu den Gedenkjahren „30 Jahre Mauerfall“ und „100 Jahre Bauhaus“; 2020 vermitteln sie im Rahmen des multidisziplinär angelegten Projekts „Munich Unique!“ Einblicke in die aktuelle Kulturszene der bayerischen Landeshauptstadt. Veranstaltungsreihen zu Leipzig, Hamburg, dem „neuen Rheinland“ und Frankfurt am Main haben gezeigt, dass solche geografischen Fokusprogramme im nach wie vor zentralistisch ausgerichteten Frankreich eine sehr positive Resonanz finden und in besonderem Maße dauerhafte Kontakte und Kooperationen herbeiführen. Eine ähnlich nachhaltige Wirkung haben regelmäßig organisierte Residenzaufenthalte, wie etwa die Einladung bildender Künstlerinnen und Künstler durch die Fondation Camargo und das Goethe-Institut Marseille oder ein gemeinsames Writer-in-Residence-Programm von Sorbonne und Goethe-Institut Paris. Auch das neue deutsch-französische Kreativlabor „Oh my Goethe!“ im Goethe-Institut Nancy ermöglicht jungen Akteuren aus Kultur- und Kreativwirtschaft eine grenzüberschreitende Vernetzung.

 

Ein wichtiger Partner, innerhalb und außerhalb Frankreichs, ist das französische Pendant des Goethe-Instituts, das Institut Français. Künftig soll die Kooperation zwischen den beiden Häusern noch weiter intensiviert werden. Im oben genannten Aachener Vertrag wurde auch das Ziel formuliert, dass Deutschland und Frankreich an verschiedenen Orten zusammen Kulturarbeit machen. Zunächst sollen Goethe-Institut und Institut Français in Bischkek in Kirgisistan, Erbil im Irak, Palermo in Italien und Rio de Janeiro in Brasilien gemeinsame Institute eröffnen, weitere Standorte werden folgen. Dieses ambitionierte Vorhaben eröffnet spannende neue Perspektiven für die Kulturpolitik der beiden Nachbarländer.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2019


Copyright: Alle Rechte bei Deutscher Kulturrat

Adresse: https://www.kulturrat.de/themen/texte-zur-kulturpolitik/ein-recht-auf-kultur/