Die Kultivierung des digitalen Raums

Argumente für ein europäisches Modell analog-digitaler Lebenswelten

Ein alternatives Digitalmodell für Europa?

Wenn sich Europa der Aufgabe stellt, ein alternatives digitales Modell zum aktuellen kommerziellen zu entwickeln, gilt es allerdings eine kontinuierliche Balance zu wahren zwischen demokratischen Prinzipien und staatlicher Einflussnahme. Denn es existiert aktuell ein digitales Gegenmodell. So hat China schon viel früher die Machtposition kommerzieller Medienkonzerne aus den USA erkannt und in Teilen den Zugriff auf Suchmaschinen, beispielsweise Google, im eigenen Land systematisch unterbunden. Stattdessen nutzt die Regierung konsequent digitale Informationsflüsse für ihre eigenen Interessen. Unter dem vordergründigen Anliegen, illegales und unmoralisches Verhalten unter Bürgern zu unterbinden, um ihre Sicherheit zu erhöhen, hat die chinesische Regierung mittels Gesichtserkennung ein Datenerfassungssystem für die Bürger entwickelt, in dem jeder Bürger mit 1.000 Punkten  – Level A – startet. Je nach registriertem Verhalten, beispielsweise der Besuch einer Bibliothek oder Spielhölle, gibt es Abzug oder Zugewinn. Bei 1.300 Punkten ist der Höchststand – Level AAA – erreicht, mit dem man Vergünstigungen, wie eine bessere Wohnung etc., erhält.

 

Dabei gilt zu berücksichtigen, dass die technischen Möglichkeiten des Digitalen zu mehr Transparenz und Kontrolle nahezu unbegrenzt sind, lässt man hier Konzernen Freiraum. So arbeiten Medienkonzerne aktuell an einem „Hirn-Gadget“, BCI -Brain-Computer Interface, das Gedanken direkt aus dem menschlichen Gehirn auf einen Computer oder ein Smartphone übertragen könnte.

 

Digitalisierung braucht kulturelle Perspektiven

Mit Blick auf die Kulturgeschichte Europas als Wiege der Demokratie wäre es wünschenswert, wenn Europa einen dritten Modellversuch wagt: die Demokratisierung und Kultivierung des digitalen Raums. Um dies zu erreichen, darf Europa nicht mehr nur auf Entwicklungen kommerzieller Anbieter mit Schadensbegrenzung reagieren, sondern muss eigene Visionen entwickeln. Die EU-Datenschutzrichtlinien waren ein reaktiver, aber guter Schritt in eine richtige Richtung; das haben viele junge Leute erkannt. Einzelne kontrovers diskutierte Aspekte wie die Uploadfilter sollten hier das gesellschaftliche Lager nicht spalten, um das große Ganze nicht aus dem Blick zu verlieren. Stattdessen sollten alle zivilgesellschaftlichen Kräfte gebündelt werden, um gemeinsam ein europäisches demokratisches Modell analog-digitaler Lebenswelten zu entwickeln. Neben staatlicher Einflussnahme bedarf es auch eines kulturellen Wandels der Bürger im Umgang mit Digitalem. Ähnlich wie wir als Konsumenten Steuerungsmöglichkeiten im Analogen haben, beispielsweise für mehr Klimaschutz auf lokale Lebensmittel und Produkte oder die Bahn zurückzugreifen, können Bürger mit dem Rückgriff auf nicht kommerzielle Suchmaschinen oder Open-Source-Programmen Einfluss aufs Digitale nehmen. Suchmaschinen als Straßenschilder des digitalen Raums zu Wissen und Teilhabe sollten nicht von kommerziellen oder staatlichen Interessen gelenkt werden, sondern von unabhängigen Kräften – möglicherweise eine künftige Aufgabe öffentlich-rechtlicher Medien, nicht nur Content, sondern vor allem Zugänge zu den bestehenden analog-digitalen Wissensbeständen zu schaffen.

 

Die Gestaltung digitaler Lebenswelten ist nicht nur eine technische, sondern vor allem eine kulturelle Aufgabe und sie bedarf eines kulturellen Wandels innerhalb der Gesellschaft. Eine kulturelle Perspektive ist beispielsweise nicht die Frage: Was kann Technik? Sondern was wollen wir, dass Technik kann? Wie viele kulturelle Techniken wie Lesen, Sprachenlernen, Arbeiten etc. wollen wir „digitalisieren“? Und welche kulturellen Techniken möchten wir als Menschen im posthumanen Zeitalter beherrschen?

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2019.

Susanne Keuchel
Susanne Keuchel ist ehrenamtliche Präsidentin des Deutschen Kulturrates und Hauptamtlich Direktorin der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW.
Vorheriger ArtikelWie sieht die Kulturnation des 21. Jahrhunderts aus?
Nächster ArtikelWas, wenn die Knöpfe für ARD und ZDF auf den Fernbedienungen fast unauffindbar werden