Die Kultivierung des digitalen Raums

Argumente für ein europäisches Modell analog-digitaler Lebenswelten

Am Anfang war die Mail. So könnte das Buch der Bücher zur Geburtsstunde digitaler Lebenswelten beginnen. Die Etablierung des Internets wurde von Intellektuellen, Kreativen und Künstlern teils euphorisch begleitet. Der Musiker und politische Aktivist Jello Biafra prägte den Slogan „Don’t hate the media, become the media“. Das Internet wurde als Chance neuer gesellschaftlicher Formen des Miteinanders zelebriert.  Denn mit dem Internet existierte erstmals ein Medium, dass sowohl senden als auch empfangen konnte und als Individual-, Gruppen- und Massenmedium die zeitgleiche wie zeitversetzte Kommunikation ermöglichte. Damit wurde nach Meinung vieler Kommunikation demokratisiert, und zwar erstmals dezentral, ohne Hie­rarchie, mit der Perspektive der nominellen Gleichheit aller Nutzer. So lautet der vierte Punkt des Google-Manifestes „Ten things we know to be true“: „Die Demokratie im Internet funktioniert.“ Diese euphorischen Perspektiven einer neuen Gesellschaftsordnung wurden durch die unbegrenzten Aufstiegsmöglichkeiten flankiert, die die digitale Technik scheinbar bot, manifestiert an Biografien wie Steve Jobs’, der 1976 zusammen mit Steve Wozniak und Ron Wayne in seiner Garage Apple gründete und half, das Konzept des Heimcomputers und später des Smartphones populär zu machen.

 

Entwicklung digitaler Lebenswelten

Aus den kreativen Experimenten der Anfangsbewegung entwickelten sich große weltweite marktbestimmende Medienkonzerne, vor allem in den USA. Die rasante technische Entwicklung führte in Teilen dazu, dass bei älteren Bevölkerungsgruppen mit dem Web 2.0 gewisse Ermüdungserscheinungen in der Auseinandersetzung mit dem Digitalen einsetzten, wohingegen Jüngere die technischen Innovationen immer wieder begeistert aufgriffen und zur bestimmenden Gruppe neuer sozialer Netzwerkplattformen und Computerspielewelten wurden.

 

Es folgte das Web 3.0, das sich durch das „Semantic Web“, dem systematischen Vernetzen von unstrukturierten Daten, ein Einzelprojekt aus dem großen Forschungsfeld der KI, und dem „Internet der Dinge“ auszeichnete. Hier konnten reale Gegenstände über Sensoren miteinander vernetzt und so in den digitalen Datenfluss inte­griert werden, um beispielsweise deren Lieferstatus kontrollieren oder Dinge aktiv über Smartphone fernsteuern zu können. Die jetzigen jungen Generationen sind mit den technischen Möglichkeiten des Web 3.0 groß geworden. Ihr Alltag wird geprägt durch technische Steuerungsmechanismen wie Algorithmen und Social Bots, die die Datenmengen des Internets bündeln und nutzerspezifisch aufbereiten, aber auch sehr konkret Einfluss auf Wissenszugänge und Meinungsbildung nehmen. Für jüngere Generationen sind analoge und digitale Welten längst zu einer Einheit verschmolzen. Alltagsbeispiele sind das Spiel Pokémon Go, selbstfahrende Autos oder in den eigenen Körper implementierte Chips zum bargeldlosen Bezahlen.

 

Generationsspezifische Perspektiven

Während Ältere vielfach mit dem Digitalen den Computer assoziieren und diesen vor allem als berufliches Werkzeug und Informationsmedium nutzen, sind Jüngere, die mit dem Smartphone aufgewachsen sind, längst in analog-digitale Lebenswelten eingetaucht. Möglicherweise ist dies ein Grund, warum Ältere konkrete Schieflagen in der Entwicklung digitaler Welten noch nicht in der Form wahrnehmen, wie dies Jüngere tun. Für sie ist das Internet kein spannender alternativer Experimentierraum mehr, sondern vor allem eine kommerziell durchregulierte Lebenswelt, in der demokratische Prinzipien und Schutz der Personen nicht – wie im Analogen – garantiert werden. Diese kritische Haltung wird in einer bundesweiten repräsentativen Umfrage der 14- bis 24-Jährigen, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert und Ende 2018 unter eigener Leitung durchgeführt wurde, sehr deutlich. Hier stimmen überraschend 71 Prozent der Befragten einer gesetzlichen Reglementierung im digitalen Bereich zu, wenn sich dadurch Phänomene wie Mobbing eingrenzen lassen, auch wenn dadurch Redefreiheit eingeschränkt würde. 59 Prozent wünschen sich eine internationale Gesetzgebung für alle Anbieter und Nutzer im Internet. 80 Prozent fordern die gleichen Regeln für das Miteinander in digitalen Welten, die auch im analogen gesellschaftlichen Leben gelten: Respekt und Toleranz. Sexuelle Belästigung solle demnach genauso geahndet werden wie in Offline-Szenarien.

 

Mehr digitale Kulturförderung

Gefordert wird von den Jüngeren auch mehr Präsenz von öffentlich geförderten Kulturgütern im digitalen Raum. 65 Prozent der 14- bis 24-Jährigen möchten, dass die Inhalte von Kultureinrichtungen auch digital zugänglich gemacht werden. Es ist für viele nicht nachvollziehbar, warum eine verpasste Theatervorstellung im Anschluss nicht digital abrufbar ist. 62 Prozent sind der Meinung, dass der Zugriff auf digitale Bücher im Internet genauso öffentlich gefördert werden sollte, wie dies beispielsweise analoge Bibliotheken tun. Immerhin 44 Prozent der 14- bis 24-Jährigen wünschen sich eine staatliche Suchmaschine als Alternative für das Netz.

 

In diesem Kontext stellt sich eine kritische Frage: Deutschland finanziert einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk, um einen freien, unabhängigen Journalismus über das Weltgeschehen zu ermöglichen. Wir fördern kulturelle Teilhabe im Analogen, haben jedoch versäumt, dies auf das Digitale zu übertragen. Stattdessen werden digitale Zugänge zu Wissen, Kultur und Meinungsbildung von kommerziellen Anbietern mittels Plattformen, Suchmaschinen und Algorithmen gesteuert. Sollte es nicht öffentliche Aufgabe sein, innerhalb digitaler Welten Grundprinzipien der Demokratie, des Grundgesetzes und der kulturellen Teilhabe ebenso zu sichern wie im Analogen?

Ein alternatives Digitalmodell für Europa?

Wenn sich Europa der Aufgabe stellt, ein alternatives digitales Modell zum aktuellen kommerziellen zu entwickeln, gilt es allerdings eine kontinuierliche Balance zu wahren zwischen demokratischen Prinzipien und staatlicher Einflussnahme. Denn es existiert aktuell ein digitales Gegenmodell. So hat China schon viel früher die Machtposition kommerzieller Medienkonzerne aus den USA erkannt und in Teilen den Zugriff auf Suchmaschinen, beispielsweise Google, im eigenen Land systematisch unterbunden. Stattdessen nutzt die Regierung konsequent digitale Informationsflüsse für ihre eigenen Interessen. Unter dem vordergründigen Anliegen, illegales und unmoralisches Verhalten unter Bürgern zu unterbinden, um ihre Sicherheit zu erhöhen, hat die chinesische Regierung mittels Gesichtserkennung ein Datenerfassungssystem für die Bürger entwickelt, in dem jeder Bürger mit 1.000 Punkten  – Level A – startet. Je nach registriertem Verhalten, beispielsweise der Besuch einer Bibliothek oder Spielhölle, gibt es Abzug oder Zugewinn. Bei 1.300 Punkten ist der Höchststand – Level AAA – erreicht, mit dem man Vergünstigungen, wie eine bessere Wohnung etc., erhält.

 

Dabei gilt zu berücksichtigen, dass die technischen Möglichkeiten des Digitalen zu mehr Transparenz und Kontrolle nahezu unbegrenzt sind, lässt man hier Konzernen Freiraum. So arbeiten Medienkonzerne aktuell an einem „Hirn-Gadget“, BCI -Brain-Computer Interface, das Gedanken direkt aus dem menschlichen Gehirn auf einen Computer oder ein Smartphone übertragen könnte.

 

Digitalisierung braucht kulturelle Perspektiven

Mit Blick auf die Kulturgeschichte Europas als Wiege der Demokratie wäre es wünschenswert, wenn Europa einen dritten Modellversuch wagt: die Demokratisierung und Kultivierung des digitalen Raums. Um dies zu erreichen, darf Europa nicht mehr nur auf Entwicklungen kommerzieller Anbieter mit Schadensbegrenzung reagieren, sondern muss eigene Visionen entwickeln. Die EU-Datenschutzrichtlinien waren ein reaktiver, aber guter Schritt in eine richtige Richtung; das haben viele junge Leute erkannt. Einzelne kontrovers diskutierte Aspekte wie die Uploadfilter sollten hier das gesellschaftliche Lager nicht spalten, um das große Ganze nicht aus dem Blick zu verlieren. Stattdessen sollten alle zivilgesellschaftlichen Kräfte gebündelt werden, um gemeinsam ein europäisches demokratisches Modell analog-digitaler Lebenswelten zu entwickeln. Neben staatlicher Einflussnahme bedarf es auch eines kulturellen Wandels der Bürger im Umgang mit Digitalem. Ähnlich wie wir als Konsumenten Steuerungsmöglichkeiten im Analogen haben, beispielsweise für mehr Klimaschutz auf lokale Lebensmittel und Produkte oder die Bahn zurückzugreifen, können Bürger mit dem Rückgriff auf nicht kommerzielle Suchmaschinen oder Open-Source-Programmen Einfluss aufs Digitale nehmen. Suchmaschinen als Straßenschilder des digitalen Raums zu Wissen und Teilhabe sollten nicht von kommerziellen oder staatlichen Interessen gelenkt werden, sondern von unabhängigen Kräften – möglicherweise eine künftige Aufgabe öffentlich-rechtlicher Medien, nicht nur Content, sondern vor allem Zugänge zu den bestehenden analog-digitalen Wissensbeständen zu schaffen.

 

Die Gestaltung digitaler Lebenswelten ist nicht nur eine technische, sondern vor allem eine kulturelle Aufgabe und sie bedarf eines kulturellen Wandels innerhalb der Gesellschaft. Eine kulturelle Perspektive ist beispielsweise nicht die Frage: Was kann Technik? Sondern was wollen wir, dass Technik kann? Wie viele kulturelle Techniken wie Lesen, Sprachenlernen, Arbeiten etc. wollen wir „digitalisieren“? Und welche kulturellen Techniken möchten wir als Menschen im posthumanen Zeitalter beherrschen?

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2019.

Susanne Keuchel
Susanne Keuchel ist ehrenamtliche Präsidentin des Deutschen Kulturrates und Hauptamtlich Direktorin der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW.
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