Der letzte Expressionist

Unersetzliches Zeugnis der europäischen Moderne

Auf dem deutschen Kunstmarkt bahnt sich eine Tragödie an – menschlich wie kulturell. Der Würzburger Unternehmer Hermann Gerlinger, der gemeinsam mit seiner Frau Hertha eine der bedeutendsten Brücke-Sammlungen aufgebaut hat, will diese jetzt über ein renommiertes Münchener Auktionshaus versteigern lassen. Ein großes Lebenswerk würde in alle Winde verstreut. Denn natürlich ist es Augenwischerei, zu behaupten, dass die Bilder dadurch einer jüngeren Sammlergeneration wieder zugänglich gemacht würden. Viel wahrscheinlicher ist doch, dass sie in den Tresoren von Kapitalanlegern verschwinden.

 

Der besondere Wert der Sammlung Gerlinger liegt aber nicht nur in seinen Spitzenwerken begründet, in Bildern von Kirchner, Nolde oder Schmidt-Rottluff, zu dem Gerlinger ein ganz besonderes Verhältnis hatte; was diese Sammlung vor allem auszeichnet, ist ihr hoher dokumentarischer Wert. Gerlinger hat nicht nur als Liebhaber, sondern als Kenner gesammelt und er ist dabei sehr systematisch vorgegangen. So stehen nicht nur ein paar große Werke der Brücke-Maler jetzt auf dem Spiel, sondern ein bedeutsames Kapitel aus der Geschichte des deutschen Expressionismus.

 

Es unter allen Umständen bewahren zu wollen, wäre eine der vornehmsten Aufgaben einer sich ihrer Verantwortung bewussten Kulturpolitik. Doch die Mittel sind heute begrenzt und die Zeiten vorbei, als man – wie mit der Moritzburg in Halle – ein ganzes Museum um die Sammlung Gerlinger herumbauen konnte. Die einst grandiose Idee, die Wunden von Diktatur und Teilung damit zu heilen, ist inzwischen ein sehr bescheiden zu Ende geträumter Traum. Als Gerlinger seine Sammlung von Halle wieder abzog, war das den Zuständigen im Lande allenfalls noch ein schmallippiges Bedauern wert. Wer dagegen das ergreifende Bekenntnis des Würzburger Sammlerehepaars zu Anfang noch im Ohr hat, kann sich so ungefähr vorstellen, was in den Jahren seitdem passiert ist. Am Ende fehlte sogar eines der Bilder.

 

Man kann die wechselvolle Geschichte der Sammlung Gerlinger auch ganz anders erzählen: als eine Irrfahrt von Würzburg quer durch die Republik; über Schloss Gottorf in Schleswig und das mitteldeutsche Halle bis zuletzt an den Bodensee ins Buchheim Museum Bernried. Es ist die Geschichte von der Unrast eines eigenwilligen alten Mannes, der nirgendwo seinen Ruhepunkt fand; und es ist die alte Krux vom Scheitern eines leidenschaftlichen Sammlers in öffentlichen Museen, die sich seinen Vorstellungen nicht unterwerfen wollten, weil sie es auch nicht können.

 

Dabei haben all diese Häuser viel für die Sammlung Gerlinger getan; haben, darauf wird man fast ärgerlich hingewiesen, mit großer Sorgfalt kuratiert, exzellente Kataloge erstellt und die Bilder und Objekte konservatorisch betreut. Aber den Grundwiderspruch konnten sie nirgendwo lösen, dass eine private Passion etwas anderes ist, als eine für die Öffentlichkeit zugängliche Sammlung. Wer Hermann Gerlinger persönlich erlebt hat, wie ihm beim Anblick der eigenen Bilder die Tränen kamen, weiß um dieses Problem. Und den fast schon verzweifelten Aufschrei eines der betroffenen Museumsdirektoren habe ich auch noch im Ohr, dass jede Generation doch das Recht haben müsse, ihren eigenen Zugang zu den Werken zu finden.

 

Das ist natürlich eine Grundwahrheit, die sich nicht einfach vom Tisch wischen lässt. Doch genauso lässt sich schon länger beobachten, dass es eine dienende Haltung gegenüber den eigenen Sammlungsbeständen schon gar nicht mehr gibt. Das häufig geschmähte Regietheater und die selbstverliebten Kuratorenausstellungen entspringen demselben Denken. Doch Hermann Gerlinger hatte überhaupt keine Lust darauf, seine Bilder immer neu und von anderen überschreiben zu lassen. Ein von seiner eigenen Emphase ergriffener Sammler wie er fand in dieser Zeit immer weniger einen Platz und er hat in einem Akt von Selbstverletzung beschlossen, sein Lebenswerk in alle Winde verstreuen zu lassen. Das ist in hohem Maße bestürzend.

 

Eine wohl immer noch mögliche Rettung der Sammlung Gerlinger wäre von weitestreichender Bedeutung. Denn es geht nicht darum, dem Ego eines unabdingbaren Sammlers einen öffentlichen Raum zu gewähren. Es geht vielmehr um die Wahrung eines wichtigen Kapitels der Wirkungsgeschichte des deutschen Expressionismus, das für Gerlingers Generation nach Nazidiktatur, Krieg und Teilung der legitime Weg in die deutsche Moderne war.

 

Wie sehr dieser deutsche Expressionismus, den man einst auch als den nordischen zu deklarieren versuchte, mit dem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert verbunden war, haben die verdienstvollen Ausstellungen im Berliner Brücke-Museum sichtbar gemacht; man ist bewusst damit auch an jenen Ort gegangen, wo Diffamierung und Wiedergutmachung der expressionistischen Malerei exemplarisch begann.

 

Doch genau jenes Nachkriegspathos eines zu seinem guten Erbe zurückehrenden Landes steht heute ebenfalls auf dem Prüfstand. Wenn man so will, dann ist Hermann Gerlinger selbst einer der letzten Expressionisten und ragt in unsere Gegenwart hinein wie ein letztes widerborstiges Zeugnis.

 

Man kann ihn dafür gar nicht hoch genug schätzen – allen tatsächlichen Reibungsverlusten zum Trotz. Mit der Auflösung seiner unwiederbringlichen Sammlung würde gnadenlos sichtbar, was gerade geschieht. Der notwendigerweise kritischer gewordene Blick auf die expressionistischen Maler beginnt sich in die Dekonstruktion ihrer Werke zu verwandeln. Sie sind im Begriff, zu bloßen Beweismitteln zu werden für den neuen, wie er sich nennt: postkolonialen Diskurs. Man wird sie in den Museen bald gar nicht mehr unkommentiert hängen dürfen; eine schnöde Asservatenkammer täte es auch. Wer darauf hofft, dass die ästhetische Kraft dieser Bilder sich diesem mutwilligen Vorgang ein Stück weit entzieht, wird sich womöglich täuschen. Auch sie werden von den weißen Wänden verschwinden. Im postkolonialen Zeitalter reichen Texte und Tafeln wohl aus.

 

Unserer Zeit ist der Respekt vor den alten Dingen abhandengekommen. Man befragt sie nicht neu, sondern frisst sie ganz auf. Dabei war gerade die Kunst dieser Maler von einer großen Neugier auf das Fremde geprägt. Wer darin nur alte Stereotypen wiedererkennen will, hat etwas Grundlegendes missverstanden. Wo diese Maler die erhoffte Naivität fremder Welten in der Realität nicht mehr finden konnten, haben sie die in ihren Bildern imaginiert. Man kann ihnen das vorwerfen, kann sie zu Nutznießern und Propagandisten des Kolonialismus machen. Aber sie waren auch die Vertreter einer europäischen Moderne, die sich im fremden Spiegel zu betrachten begann. Von welcher Generation ließe sich das mit ähnlichem Pathos noch sagen. Und Gerlingers Sammlung gibt ein unersetzliches Zeugnis davon!

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 02/2022.

Johann Michael Möller
Johann Michael Möller ist Ethnologe und Journalist. Er war langjähriger Hörfunkdirektor des MDR.
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