Kunst und Kultur sind eine Pflichtaufgabe

Katrin Budde im Gespräch

Die zweite Legislaturperiode in Folge ist die SPD-Politikerin Katrin Budde Vorsitzende des Ausschusses für Kultur und Medien im Deutschen Bundestag. Hans Jessen spricht mit ihr über alte und neue Vorhaben.

 

Hans Jessen: Frau Budde, Kulturpolitikerinnen und -politiker haben oft einen kulturwissenschaftlichen Hintergrund. Sie sind ausgebildete Ingenieurin – und seit 2018 Vorsitzende des Kulturausschusses des Deutschen Bundestages. Das kann man überraschend finden.

Katrin Budde: Ich bin in einem sehr kulturinteressierten und kunstbestimmten Elternhaus aufgewachsen. Mein Vater ist selbst Ingenieur – und bildender Künstler. Das geht gut zusammen. In Sachsen-Anhalt war ich Ministerin für Wirtschaft und Technologie – immer mit einer kulturpolitischen Dimension. Als Fraktionsvorsitzende später dann, war mein damaliger Landesfinanzminister z. B. gar nicht begeistert, als ich Mittelkürzungen für Theater ablehnte. Beim Wechsel in die Bundespolitik war der Kunst- und Kulturbereich völlig frei, zu Wirtschaft und Technologie drängten viele. Ich habe mich bewusst für einen Schwerpunkt entschieden, der mir schon immer wichtig und nah war. Und es war eine gute Entscheidung.

 

Welche Rolle spielt, realistisch betrachtet, der Kulturausschuss des Deutschen Bundestages für die Kultur- und Medienpolitik? Kulturhoheit der Länder, eine Vielzahl zivilgesellschaftlicher Akteure – das ist kein ganz einfaches Feld.

Der Kunst- und Kulturbereich mit seinen vielen Ebenen, auch die gesamte Kreativwirtschaft, das ist ein sehr differenzierter Bereich. In der Wirtschaft ist zwar auch jeder Mittelständler anders – aber es gibt große Schnittmengen, wenn man über Wirtschaftspolitik redet. In Kunst und Kultur ist das komplett anders. Sehr unterschiedliche Welten, sehr unterschiedliche Denkweisen, sehr unterschiedliche Finanzierungen.

Gerhard Schröder hatte sich erstmals entschieden – mit Michael Naumann als erstem Kulturstaatsminister – diese Funktion ins Kanzleramt zu holen. Eine sehr richtige Grundsatzentscheidung. Inzwischen ist es so, dass durch die finanzielle Situation der Länder und Kommunen viel mehr zum Bund geguckt wird. Über die Jahre hat sich eine Art „kooperativer Kulturföderalismus“ ausgeprägt.

In vielen Bereichen der Kulturszene ist der Bund mittlerweile ein fester Bestandteil. Meine Erfahrung der letzten vier Jahre: Der Bund wird als sehr verlässlich angesehen. Von Länderseite aus würde man ihn manchmal gern nur als Zu-Finanzierer eigener Ideen sehen. Nach meinem Eindruck hat sich die Kulturpolitik des Bundes in den letzten vier bis acht Jahren davon aber emanzipiert. Es gibt eigene Ideen des Bundes – z. B. in der Erinnerungskultur. Dort haben wir sowohl seitens der Fraktionen als auch gemeinsam im Ausschuss zusätzliche Punkte gesetzt, wenngleich die Gedenkstätten selbst Ländersache sind.

 

Welche Schwerpunkte möchten Sie selbst in der neuen Legislaturperiode setzen?

Ein großes Thema, bei dem der Ausschuss eine Rolle spielen kann: Kunst und Kultur müssen stärker im Grundgesetz verankert werden. Und zwar nicht nur als Kunstfreiheit, die schon geschützt ist, sondern als eine Form der Daseinsvorsorge. Wenn das im Grundgesetz steht, können Länder und Kommunen die Förderung von Kunst und Kultur nicht mehr nur als freiwillige Leistung ansehen, sondern als Pflichtaufgabe. Wenn das Recht auf Kunst und Kultur und die Teilhabe daran in einer stärkeren Formulierung ins Grundgesetz kommt, dann bedeutet das für die Zukunft auch, dass die Finanzierung dieses Bereichs, der ja nicht primär wirtschaftlichen Zwecken folgt, unter einem anderen Aspekt steht. Als staatliche Aufgabe – nicht, was die Inhalte betrifft, aber die materielle Ermöglichung – würde stärkere Verankerung in der Verfassung mehr Verpflichtung und Verlässlichkeit bedeuten.

Es ist auch ein Denkwechsel, wenn Kunst und Kultur nicht mehr nur wohlwollend „mitgedacht“ werden, sondern von Anfang an selbstverständlich und abgesichert dabei sind. Für eine integrative Gesellschaft ist das unbedingt notwendig.

 

Zum Ende der letzten Legislatur-periode haben Sie das Thema „Industriekultur“ ins Parlament gebracht. Warum ist Ihnen das wichtig, verstehen Sie darunter mehr als eine Art technischer Denkmalpflege?

Ich komme aus Sachsen-Anhalt. Dort war ein erheblicher Teil der DDR-Industrie angesiedelt. Davon ist um 1990 enorm viel zusammengebrochen. Ich bin als Landespolitikerin für Wirtschaft und Technologie oft nach Nordrhein-Westfalen gefahren und habe mir angeschaut, was dort mit stillgelegten Industriebetrieben gemacht wurde.  Viele gute und richtige Projekte, aber die Dimensionen des Zusammenbruchs von Industriestruktur und -kultur in meiner Heimat waren ganz andere: 50-fach größer, dabei auf kleinerem Gebiet konzentriert.

Da würde der Erhalt einzelner „Denkmale“ nicht funktionieren. Was wir brauchen, ist eine Form von Nachnutzung. Technische Hüllen sollen erhalten werden – aber wir müssen neue Nutzung im hier und heute finden. Darum geht es.

Im Osten ist es z. B. so, dass innerstädtische „Einkaufsparks“ in ehemaligen Industriebetrieben angesiedelt wurden. Die Architektur blieb erhalten, aber die Nutzung ist eine andere. Vergangenheit wird in das Alltagsleben integriert.

Wir haben auch ehemalige, damals hochmoderne Industriehallen in neue Wohnkomplexe umgebaut. Trotzdem ist noch viel Industriekultur übrig und manches muss eben als Denkmal, im Idealfall funktionsfähig, erhalten werden.

Außerdem prägt die Produktionsgeschichte einer Region die dort lebenden Menschen. Ich bin Abgeordnete für den Südharz. Seit 800 Jahren waren die Orte dort durch den Bergbau geprägt. Über Generationen hinweg basierte das Leben, Denken und Handeln der Menschen auf dem Bergbau. Das ist aber nun vorbei. Die Generation nach dem Bruch 1990 weiß nicht mehr, warum ihre Eltern und Großeltern so denken und so geworden sind. In diesem Sinne hat „Industriekultur“ etwas immaterielles.

Es ist eine Riesenaufgabe, nach dem Wegbrechen alter Funktionsstrukturen zeitgemäße Formen des Umgangs mit diesem Erbe zu schaffen – ohne schlüssige Nachnutzung wird das nicht funktionieren. Darin liegt die Bedeutung von Industriekultur. Sie hat auch eine soziokulturelle Dimension.

 

„Erinnerungskultur“ ist ein weiteres Stichwort, das sehr unterschiedlich gefüllt werden kann. Sie haben die Überführung der Stasi-Unterlagen ins Bundesarchiv als wichtigen Schritt bezeichnet. Ist das Thema deutsch-deutsche Erinnerungskultur damit abgeschlossen? 

Nein. Geschichte ist nie abgeschlossen, sie lebt weiter – auch in den Familien. Im Verstehen oder Nicht-Verstehen: Auf welcher Seite stand jemand? Was hat man im System gemacht? Auch die nationalsozialistische Geschichte ist nicht abgeschlossen. Wir merken doch, dass sie bis heute wirkt – und auch deswegen nie vergessen werden darf.

Die jüngere Erinnerungskultur: 1989 war ich 24 Jahre alt. Als ich 50 wurde, konnte ich sagen: Ich habe die Hälfte meines Lebens im Osten, die andere Hälfte gemeinsam erlebt. Das wirkt durch. Wahlverhalten heute zu verstehen, setzt voraus, dass man das Denken in der DDR versteht.

Diese jüngere Erinnerungskultur funktioniert nicht allein durch Orte. Orte sind wichtig als authentische Stätten, aber lebendige Erinnerungskultur bedeutet, dass wir Geld geben müssen, damit Schulklassen dorthin fahren können, damit die Geschichte anschaulich gemacht, erlebt und selbst erforscht werden kann, damit eigene Auseinandersetzung damit stattfindet.

Für diese Finanzierung, ohne die Erinnerungskultur nicht möglich ist, spielen Programme des Bundes eine wesentliche Rolle. Wir können vorangehen und damit auch Länder und Kommunen zum Handeln bewegen.

 

Auch die Beschäftigung mit der deutschen Kolonialgeschichte lässt sich als eine Form von Erinnerungskultur begreifen. Das Humboldt Forum hat diese Debatte in der jüngsten Zeit befeuert. Wird das für Sie ein weiterer Arbeitsschwerpunkt sein?

Auf jeden Fall. Das ist etwas verschüttet: Wir sind in Deutschland mit dieser Diskussion spät dran. In Frankreich hat die Debatte um Raubkunst und Provenienz Jahre früher begonnen. Die beiden speziellen deutschen Schwerpunkte von Erinnerungskultur: Nationalsozialismus und DDR-Diktatur haben die Auseinan-dersetzung mit dem Kolonialismus überlagert, so ehrlich muss man sein. Es ändert sich allmählich, auch durch Provenienzforschung an vielen Orten, die vom Bund finanziert wird. In den Institutionen, vor allem den Museen, ist das Bewusstsein weitgehend da. Aber nach meinem Eindruck ist es noch kein Thema, das die Gesellschaft in ihrer Breite erreicht hat. Da wird noch nicht oder zu wenig aus eigenem Antrieb nachgefragt.

Ich denke, dass wir als Kulturausschuss da nicht nur etwas tun müssen, sondern auch tun werden. Wir haben Vorarbeiten in der vergangenen Legislaturperiode geleistet, aber es war manchmal zäh in der damaligen Koalition. Nun gibt es ein neues Regierungsbündnis – ich hoffe, dass dieses offensiver an das Thema herangeht.

 

Für die Kulturbranche war und ist die Pandemie mit den folgenden Restriktionen existenzbedrohend. Was folgt daraus für die Kulturpolitik, soweit Sie sie beeinflussen können?

Ich habe eingangs die Stärkung von Kunst und Kultur im Grundgesetz als überragend wichtiges Thema bezeichnet. Ebenso überragend wichtig ist die soziale Lage von Künstlerinnen und Akteuren im Kultursektor. Die Arbeitsformen sind so ungeheuer differenziert und vielschichtig, dass ich jetzt nicht sagen könnte, wie ein Modell zur Sicherung aussehen kann. Ich kenne die Lösung noch nicht, aber die Pandemie hat gezeigt: Wir brauchen eine Lösung.

Unsere Grundidee ist: Wir müssen mit den Experten des Arbeits- und Sozialbereiches darüber reden, wie man die „unstetigen“ Beschäftigten in einem Sozialsystem verankern kann, so dass die in schwierigen Zeiten geregelte Ansprüche auf Zahlungen haben. Das wird aber, darüber werden wir mit Künstlern und deren Verbänden reden müssen, nicht ohne Einzahlungen der Künstler gehen. Sie müssen sich gemeinsam etwas überlegen. Eine Überlegung in dieser Richtung könnte z. B. sein, dass man die Künstlersozialkasse (KSK) ausweitet zu einer speziellen Versicherung für Menschen mit besonderen Arbeitsverhältnissen im Kultur- und Medienbereich.

Die beiden Ideen laufen parallel: Was kann in das System der „normalen“ Sozialversicherung integriert werden – und wie würde eine „spezielle“ Versicherung in einer ausgeweiteten KSK aussehen? Dafür müssen wir eine Lösung finden. Es ist eine Großbaustelle.

 

Gibt es liegengebliebene oder vernachlässigte Aufgaben aus der vergangenen Legislaturperiode, die Sie jetzt besonders verfolgen wollen?

Liegengeblieben oder vernachlässigt würde ich nicht sagen. Vieles ist durch die Pandemie und durch die Notwendigkeit schneller Ad-hoc-Reaktionen überdeckt worden. Wir haben nichts bewusst liegen gelassen – aber manches ist kleiner geworden als gedacht, z. B. die Reform des Filmförderungsgesetzes. Da müssen wir nochmal ran.

Worauf ich mich aber ehrlich freue: Dass wir jetzt mit einer neuen Koalition und einer neuen Kulturstaatsministerin in eine neue Phase treten, vielleicht auch mit neuem Schwung.

In der vorherigen Koalition war es manchmal doch zäh – was gar nicht an den Kulturpolitikern der Koalitionspartner lag. Wir waren uns meist sehr einig. Aber in ihren Fraktionen sind sie manchmal an Grenzen gestoßen und wurden gebremst. Erinnerungskultur oder Kolonialismusdebatte waren solche Felder. Da haben wir jetzt, wenn man sich Anträge von FDP und Bündnis 90/Die Grünen der letzten Legislaturperiode ansieht, mehr Schnittmengen, was einen Push geben kann. Das wird sich aber noch erweisen müssen. Die neue Kulturstaatsministerin Claudia Roth habe ich in unseren ersten Treffen als sehr offen erlebt. Ich hoffe, dass sie diesen Stil beibehält und als langjährige Parlamentarierin ein kooperatives Verhältnis zu den Abgeordneten im Kulturausschuss pflegt. Ich freue mich jedenfalls auf einen neuen Stil der Zusammenarbeit.

 

Vielen Dank.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 02/2022.

Katrin Budde und Hans Jessen
Katrin Budde ist Vorsitzende des Ausschusses für Kultur und Medien im Deutschen Bundestag. Hans Jessen ist freier Publizist und ehemaliger ARD-Hauptstadtkorrespondent.
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