Der religionsgeschichtliche Kontext der Science-Fiction

Ein erster Blick auf Jenseitsreiseerzählungen vom antiken Kontext her

Jeder Mensch will über seinen Lebensweg wie auch über das endgültige Woher und Wohin dieses Kosmos Bescheid wissen. Doch wissen kann niemand, woher alles kommt und wohin alles gehen wird. Ahnungen ersetzen Wissen. Solche Ahnungen können selbst nicht allein auf diskursivem Wege deutlich werden. Sie müssen einen anschaulichen Charakter erhalten. Deshalb gibt es eine Fülle von Bildern, in denen Menschen ihre radikale Endlichkeit und ihre Sehnsucht nach Heil anschaulich machen. Eines dieser Bilder kann das der Jenseitsreise sein, das sich in vielen Kulturen findet. Jenseitsreisen sind literarisch ausgestaltete Erlebnisse, etwa nächtliche Träume, des übergreifenden Blicks auf die kosmische Ordnung, aber auch auf ihre Un-Ordnung und damit auf die eigene radikale Endlichkeit und auf die Sehnsucht des Menschen nach Befreiung von derselben. In der Antike – die uns die ersten Jenseitsreiseerzählungen überliefert – werden Menschen durch Himmelswesen wie Göttinnen und Götter sowie Engel auf eine Reise in die überirdischen Sphären mitgenommen, sie verstehen dabei nur das, was sie durch den „Deuteengel“ erklärt bekommen, erleben – teilweise durch einen Blick auf die Schöpfung und das Ende der Welt wie bei der frühjüdischen und christlichen Apokalyptik – die übergreifende Ordnung dieses gesamten Kosmos und können als Apokalyptiker dadurch auch in Krisensituationen auf die leitende jenseitige Hand im Hintergrund des Ganzen vertrauen und so in scheinbar aussichtsloser Lage Hoffnung erlangen – siehe Äthiopisches Henochbuch, Apokalypse des Johannes. Oder sie werden eher kognitiv über die Ordnung dieser Welt durch eine Göttin aufgeklärt und in die Philosophie eingeführt wie Parmenides von Elea. So erfahren sie die wahre Weltordnung und erleben die Aufdeckung der Unordnung verursachenden Scheinhaftigkeit der in sich verstrickten irdischen Perspektive. Dieser „jenseitige“ Blick ist also immer weltanschaulich und kulturell vermittelt und epochal geprägt.

 

Modernität und die Science-Fiction

 

Der Ursprung der Science-Fiction fällt zusammen mit dem Beginn der durch die technologische Nutzung der Erfahrungswissenschaften konstituierten Moderne und ihres spezifischen Wissenschaftsglaubens und der sie begleitenden Technikangst. In der Moderne betrifft das Motiv der Jenseitsreise deshalb oft den Blick auf einen als in sich und möglicherweise nicht nur situativ, also nur eine bestimmte geschichtliche Situation der Krise betreffend, chaotischen und gottverlassenen Kosmos der nachmetaphysischen „Losigkeit“ (Samuel Beckett) von allen Ordnungsbezügen.

 

Jean Paul hat dieses Thema der Jenseitsreise unter einem erfahrungswissenschaftlich entzauberten Blick auf die Welt 1796 aufgegriffen und in eine apokalyptische Perspektive gesetzt. Das Jüngste Gericht wird umgedeutet zur finalen Offenbarung der Sinnlosigkeit unserer Welt: „Ich lag einmal an einem Sommerabende vor der Sonne auf einem Berge und entschlief. Da träumte mir, ich erwachte auf dem Gottesacker. (…) Alle Gräber waren aufgetan. (…) Alle Schatten standen um den Altar, und allen zitterte und schlug statt des Herzens die Brust. (…) Jetzo sank eine hohe edle Gestalt mit einem unvergänglichen Schmerz aus der Höhe auf den Altar hernieder, und alle Toten riefen: ‚Christus! Ist kein Gott?‘ Er antwortete: ‚Es ist keiner‘. (…) Christus fuhr fort: ‚Ich ging durch die Welten, ich stieg in die Sonnen und flog mit den Milchstraßen durch die Wüsten des Himmels; aber es ist kein Gott. … Und als ich aufblickte zur unermeßlichen Welt nach dem göttlichen Auge, starrte sie mich mit einer leeren bodenlosen Augenhöhle an, und die Ewigkeit lag auf dem Chaos und zernagte es und wiederkauete sich. – Schreiet fort, Mißtöne, zerschreiet die Schatten; denn er ist nicht!’“, so Jean Paul in „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei“.

 

Das Weltall in seiner „Maßlosigkeit“, die eigene evolutive „tierische Herkunft“, die Abgründigkeit unserer Psyche jenseits aller aufgeklärten Vernunft, der Verlust der traditionellen religiösen Bindungen und Vorstellungen und vieles mehr werfen den modernen Menschen auf sich in seiner Orientierungssuche. Doch die Sehnsucht nach dem übergreifenden, Ordnung erschließenden Blick bleibt. Dieser Ausgeliefertheit an eine Vielzahl von unübersichtlichen Unendlichkeiten entspricht auf der anderen Seite eine tiefe – wenn auch von Anbeginn von Wissenschaftsangst begleitete – Wissenschaftsgläubigkeit. Warum sollte man da nicht eine Jenseitsreise mit Raketenunterstützung machen?

Linus Hauser
Linus Hauser war bis zu seiner Pensionierung Professor für systematische Theologie im Institut für katholische Theologie der Justus-Liebig-Universität Gießen. Sein Hauptwerk ist die dreibändige „Kritik der neomythischen Vernunft“, erschienen im Schöningh-Verlag.
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