Linus Hauser - 1. Juli 2021 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Science-Fiction

Der religionsgeschichtliche Kontext der Science-Fiction


Ein erster Blick auf Jenseitsreiseerzählungen vom antiken Kontext her

Jeder Mensch will über seinen Lebensweg wie auch über das endgültige Woher und Wohin dieses Kosmos Bescheid wissen. Doch wissen kann niemand, woher alles kommt und wohin alles gehen wird. Ahnungen ersetzen Wissen. Solche Ahnungen können selbst nicht allein auf diskursivem Wege deutlich werden. Sie müssen einen anschaulichen Charakter erhalten. Deshalb gibt es eine Fülle von Bildern, in denen Menschen ihre radikale Endlichkeit und ihre Sehnsucht nach Heil anschaulich machen. Eines dieser Bilder kann das der Jenseitsreise sein, das sich in vielen Kulturen findet. Jenseitsreisen sind literarisch ausgestaltete Erlebnisse, etwa nächtliche Träume, des übergreifenden Blicks auf die kosmische Ordnung, aber auch auf ihre Un-Ordnung und damit auf die eigene radikale Endlichkeit und auf die Sehnsucht des Menschen nach Befreiung von derselben. In der Antike – die uns die ersten Jenseitsreiseerzählungen überliefert – werden Menschen durch Himmelswesen wie Göttinnen und Götter sowie Engel auf eine Reise in die überirdischen Sphären mitgenommen, sie verstehen dabei nur das, was sie durch den „Deuteengel“ erklärt bekommen, erleben – teilweise durch einen Blick auf die Schöpfung und das Ende der Welt wie bei der frühjüdischen und christlichen Apokalyptik – die übergreifende Ordnung dieses gesamten Kosmos und können als Apokalyptiker dadurch auch in Krisensituationen auf die leitende jenseitige Hand im Hintergrund des Ganzen vertrauen und so in scheinbar aussichtsloser Lage Hoffnung erlangen – siehe Äthiopisches Henochbuch, Apokalypse des Johannes. Oder sie werden eher kognitiv über die Ordnung dieser Welt durch eine Göttin aufgeklärt und in die Philosophie eingeführt wie Parmenides von Elea. So erfahren sie die wahre Weltordnung und erleben die Aufdeckung der Unordnung verursachenden Scheinhaftigkeit der in sich verstrickten irdischen Perspektive. Dieser „jenseitige“ Blick ist also immer weltanschaulich und kulturell vermittelt und epochal geprägt.

 

Modernität und die Science-Fiction

 

Der Ursprung der Science-Fiction fällt zusammen mit dem Beginn der durch die technologische Nutzung der Erfahrungswissenschaften konstituierten Moderne und ihres spezifischen Wissenschaftsglaubens und der sie begleitenden Technikangst. In der Moderne betrifft das Motiv der Jenseitsreise deshalb oft den Blick auf einen als in sich und möglicherweise nicht nur situativ, also nur eine bestimmte geschichtliche Situation der Krise betreffend, chaotischen und gottverlassenen Kosmos der nachmetaphysischen „Losigkeit“ (Samuel Beckett) von allen Ordnungsbezügen.

 

Jean Paul hat dieses Thema der Jenseitsreise unter einem erfahrungswissenschaftlich entzauberten Blick auf die Welt 1796 aufgegriffen und in eine apokalyptische Perspektive gesetzt. Das Jüngste Gericht wird umgedeutet zur finalen Offenbarung der Sinnlosigkeit unserer Welt: „Ich lag einmal an einem Sommerabende vor der Sonne auf einem Berge und entschlief. Da träumte mir, ich erwachte auf dem Gottesacker. (…) Alle Gräber waren aufgetan. (…) Alle Schatten standen um den Altar, und allen zitterte und schlug statt des Herzens die Brust. (…) Jetzo sank eine hohe edle Gestalt mit einem unvergänglichen Schmerz aus der Höhe auf den Altar hernieder, und alle Toten riefen: ‚Christus! Ist kein Gott?‘ Er antwortete: ‚Es ist keiner‘. (…) Christus fuhr fort: ‚Ich ging durch die Welten, ich stieg in die Sonnen und flog mit den Milchstraßen durch die Wüsten des Himmels; aber es ist kein Gott. … Und als ich aufblickte zur unermeßlichen Welt nach dem göttlichen Auge, starrte sie mich mit einer leeren bodenlosen Augenhöhle an, und die Ewigkeit lag auf dem Chaos und zernagte es und wiederkauete sich. – Schreiet fort, Mißtöne, zerschreiet die Schatten; denn er ist nicht!’“, so Jean Paul in „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei“.

 

Das Weltall in seiner „Maßlosigkeit“, die eigene evolutive „tierische Herkunft“, die Abgründigkeit unserer Psyche jenseits aller aufgeklärten Vernunft, der Verlust der traditionellen religiösen Bindungen und Vorstellungen und vieles mehr werfen den modernen Menschen auf sich in seiner Orientierungssuche. Doch die Sehnsucht nach dem übergreifenden, Ordnung erschließenden Blick bleibt. Dieser Ausgeliefertheit an eine Vielzahl von unübersichtlichen Unendlichkeiten entspricht auf der anderen Seite eine tiefe – wenn auch von Anbeginn von Wissenschaftsangst begleitete – Wissenschaftsgläubigkeit. Warum sollte man da nicht eine Jenseitsreise mit Raketenunterstützung machen?

Science-Fiction als Jenseitsreisedarstellung

 

Science-Fiction beschäftigt sich fiktional mit den Auswirkungen der wissenschaftsfundierten Technik auf den Menschen und insbesondere der utopisch-futurologischen Extrapolation ihrer Auswirkungen. Innerhalb ihrer gibt es zahlreiche Versuche der Beantwortung der klassischen metaphysischen Fragen: Warum es überhaupt etwas gibt und nicht „Nichts“, nach der Rolle des Menschen in der Welt und der nach dem Sinn des „Ganzen“.

 

Ein Modell eines selbst erzeugten ewigen menschlichen Lebens, das sich aus eigener Kraft durch zusammenbrechende und neu entstehende Universen hindurch bewahrt, findet sich bei George Zebrowski in seinem 1979 veröffentlichten Roman über das „Makroleben“. Als das Wirtschaftsimperium der Familie Bulero im irdischen Sonnensystem 2021 zusammenbricht, fliehen die Buleros in die kosmischen Weiten hinaus. Ihre Vision ist nun die Erschaffung von „Makroleben“. Es wird erzählt, wie sich die Menschheit auf einer kosmischen Reise ihrer Endlichkeit dadurch entledigt, dass sie sich gleichsam als Com­puterinformation abbildet, so zu einem Makroleben wird und sich im Laufe ihrer kosmischen Wanderschaft zu immer größeren Verbänden mit anderen Intelligenzen zusammenschließt. So soll es möglich werden, auch das – als zyklisch angenommene – Aufeinanderfolgen von Big Bang und Big Crunch zu überleben. Am Ende des ersten Universums steht dann der Beginn eines neuen und größeren Universal-Zusammenhangs. Im Durchgang durch den Big Crunch treffen sie eine unvordenklich alte Universengemeinschaft: „Makroleben, das aus einer Zeit vor unserem Zyklus stammt und ungezählte Zerstörungen der Natur überlebt hat. Wir sind nicht die ersten großen Einheiten von intelligentem Bewußtsein (…) Das, dachte John, war die Zivilisation vom Typ III (…) Es war die Erste Form von Makroleben, die aus einer unvorstellbaren Vergangenheit überlebt hatte. Sie brauchten keine Worte. Die ältere Form öffnete ihre Schale, und die Millionen Welten flogen ohne Zeremonie hinein. Jeder Zyklus hatte Überlebende. Sie waren erwartet worden.“

 

Wir erkennen hier unschwer ein Konzept, bei dem endliche Vernunft aus eigener Kraft heraus auf einer Jenseitsreise den Kosmos begeistert.

Greg Bears Menschheit lebt in einer Welt, in der alle Übersichtlichkeit verloren gegangen ist. Zeitbegrenzungen und die Begrenztheit durch den – prinzipiell überflüssigen – eigenen Körper sind Vergangenheit. Auf den unterschiedlichsten kosmischen Wegen kann sich der Mensch hier bewegen. Einer dieser Reisenden, die sich selbst in ihrer Bestimmung zwar suchen, aber dabei doch wissend, dass nur die Suche ihr ewiger Weg ohne Ziel sein wird, schreibt in sein Tagebuch: „In all dem Gewebe großer Universen konnten die Sensoren nirgends einen allgemeinen Plan oder Sinn entdecken. Keine Intelligenz hatte all dies gemacht, nichts hatte durch seinen Willen diese Totalität ins Sein gerufen. Ob ein Gott oder Götter existierten, sie hatten hier keinen Platz. Soviel verstand er ohne jeden Schatten von Zweifel, erkannte er auf eine Weise, die er nie bewußt begreifen oder erreichen konnte“.

 

Der angelsächsische Philosoph Olaf Stapledon versucht hingegen im Kontext einer Jenseitsreiseerzählung ein trinitarisches Gottesbild unter den Bedingungen des evolutiven Denkens zu formulieren. Der Ich-Erzähler erlebt – mit den unterschiedlichsten neuen, den höheren evolutiven Stufen des Kosmos entsprechenden Wahrnehmungsorganen begabt – eine Reise durch alle Nuancen der kosmischen Evolution bis hin zur Schau des trinitarischen kosmischen Geistes.

 

Am Ende seiner Reise „schaut“ er den „absoluten Geist“: „Und wie durch Tränen der Leidenschaft und des heißen Widerspruchs sah ich den Geist des höchsten und vollkommensten Kosmos seinem Schöpfer gegenübertreten. (…) Und der Sternenschöpfer (…) fand in der greifbaren Lieblichkeit seines Wesens die Erfüllung seines Strebens. Und in der Freude des Sternenschöpfers und seines höchsten Kosmos wurde auf seltsame Weise der absolute Geist selbst deutlich, der Geist, in dem alle Zeiten gegenwärtig und alle Wesensformen eins sind; denn der aus dieser Vereinigung entspringende Geist zeigte sich meinem ohnmächtigen Verstand zugleich als Ursache und Ergebnis aller endlichen Dinge“.

 

Es ließen sich noch viele andere Autoren anführen – doch schon jetzt sieht man: Eine uralte Erzähltradition über Jenseitsreisen bekommt in der modernen Science-Fiction eine aktuelle Gestalt.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 7-8/2021.


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