Thüringen: Ein Kuhschwanzfest und 173 Schlösser im demografischen Echo

Zur Kultur und Kulturpolitik in Thüringen

Thüringen

  • Landeshauptstadt: Erfurt
  • Gründung: 3. Oktober 1990
  • Einwohner: 2,2 Mio.
  • Fläche: 16.172,50 km²
  • Bevölkerungsdichte: 133 Einwohner pro km²
  • Regierungschef: Bodo Ramelow, MdL (Die Linke)
  • Regierende Parteien: Linke, SPD und Bündnis 90/Die Grünen
  • Nächste Wahl: Herbst 2019
  • Chef der Staatskanzlei und Minister für Kultur, Bundes- und Europaangelegenheiten: Prof. Dr. Benjamin-Immanuel Hoff (Die Linke)
  • Öffentliche Ausgaben für Kultur: 298 Mio. Euro/Jahr
  • Kulturausgaben je Einwohner: 136,58 Euro/Jahr
  • Kommunalisierungsgrad: 48,5%

Wenn der Eisfelder Bürgermeister Sven Gregor über die Kultur in seiner südthüringischen Gemeinde spricht, ist das mittelalterliche Schloss erstes Thema, dann die lutherische Dreifaltigkeitskirche und das Murmelmuseum. Ziemlich schnell allerdings widmet sich der Ortsvorsteher der eigentlichen Attraktion des Ortes: Dem Kuhschwanzfest. Dessen Name ist etwas missverständlich, denn es geht in dem stimmungsvollen Trachtenumzug nicht etwa um eine Leistungsschau der hiesigen Rinderzüchter, sondern um eine historische Musterungsprozedur, die Herzog Johann Casimir von Sachsen-Coburg 1608 angesichts dräuender Kriegsgefahr veranstalten ließ. Daraus wurde eine Jahrhunderte währende Tradition, die nur zu DDR-Zeiten nicht begangen wurde, als das Fest wie so vieles Volkstümliche vom sozialistischen Staat mit seinem Leitbild vom neuen Menschen verboten wurde. Doch schon kurz nach der Wende paradierten und musizierten sie wieder zu Pfingsten in Eisfeld. Sven Gregor berichtet von mittlerweile bis zu 50.000 Besuchern, die an dem Wochenende in seiner Gemeinde feiern. Der Ansturm ist keine Kleinigkeit für einen Ort mit gut 5.000 Einwohnern – sie bewältigen das vor allem mit jeder Menge freiwilligem, oft ehrenamtlichem Engagement. Der Etat seiner Kleinststadt, aber auch der des Freistaats mit seinen weiter sinkenden Einwohnerzahlen, gibt da nicht viel her.

 

Das Kuhschwanzfest ist exemplarisch für Thüringen: Hinter wirklich jeder Ecke lauert eine Historie, deren Traditionen und Erzählungen bewahrt, deren Dokumente wie Monumente saniert und erhalten werden wollen. „Es gibt allein 173 Schlösser und Burgen“, stöhnte Elke Harjes-Ecker, die Leiterin der Kulturabteilung in der Staatskanzlei, neulich auf einem Kongress in Berlin ganz leise, „dazu noch mal 300 Herrenhäuser“. Und das ist, zusammen mit den übrigen Museen, Bibliotheken und Archiven, „nur“ das kulturelle Erbe – dazu kommt natürlich die ebenfalls höchst lebendige Kunst der Gegenwart. Wie überall in der Republik sind es vor allem Theater und Klassische Musik, die von der öffentlichen Hand finanziert werden: 124 der knapp 300 Millionen Euro, die Städte, Land und Bund laut des aktuellen Kulturfinanzberichts 2014 (mit den Daten von 2011) in Thüringen aufgewendet haben, gingen in diesen Bereich. Zehn Kulturorchester gibt es im Freistaat, neun große Festivals werden öffentlich finanziert und acht Ein- oder Mehrspartentheater. Das Land ist nur an zwei Bühnen direkt beteiligt: Am Nationaltheater Weimar und der Theaterstiftung Meiningen. Dass in Eisenach, Rudolstadt und Altenburg ebenfalls „Landestheater“ stehen, liegt nicht an der institutionellen Förderung durch die Erfurter Freistaatskasse, sondern ebenfalls an der thüringischen Historie: Im Mittelalter gab es mal 30 Fürstentümer in der kleinen Region. Als mit Ausrufung der zweiten deutschen Republik 1918 der Adel endgültig aufgelöst wurde, existierten immer noch sieben verschiedene Freistaaten, die sich erst 1920 formal zusammenschlossen und auch die Kulturbetriebe übernahmen. „Es gibt seit 1500 Jahren Thüringer“, sagt der Vorsitzende des Landeskulturrates, Musikprofessor Eckart Lange, gerne „aber das Land ‚Thüringen‘ nicht mal seit 100 Jahren.“

 

Die kleinstteilige Herrschaftsgeschichte zeigt sich bis heute – nicht nur im kulturellen Erbe, auch in den Verwaltungsstrukturen: Mit Blick auf Fläche und Einwohnerzahl hat Thüringen bemerkenswert viele einzelne Gemeinden (723), Städte (126), Landkreise (17) und kreisfreie Städte (6). Der Erfurter Kulturdirektor Tobias Knoblich brachte das Dilemma jüngst in einem Vortrag in Weimar auf den Punkt: „Die große Geschichte von Teilen dieses Landes, die Gunst von Wirkungsperioden überregional, ja international berühmter Köpfe und die schöne Mischung aus Kultur- und Naturlandschaft hat einen Binnenflickenteppich geschaffen, der heutigen Nutzungs-, Verwaltungs- und Finanzierungsanforderungen geradezu Hohn spricht.“ Er mahnt Gebiets- und Verwaltungsreformen an, die es nicht nur im Westen, sondern auch in den ostdeutschen Nachbarländern seit der Wende schon mehrfach gegeben habe. So hat Sachsen zwar doppelt so viele Einwohner wie Thüringen, mit zehn Landkreisen und drei kreisfreien Städten aber nur halb so viele kommunale Verwaltungseinheiten.

 

Bei den Pro-Kopf-Kulturausgaben liegt Thüringen mit 136,58 Euro hinter Spitzenreiter Sachsen (164,50) und knapp vor Sachsen-Anhalt (133,97) sogar auf Platz Zwei der deutschen Flächenländer – bis auf Hessen kommt keines sonst auch nur über die 100-Euro-Marke. Deshalb werden die drei östlichen Länder von interessierter Seite immer wieder zum Vorbild für alle anderen erklärt. Subtil wird der Eindruck erweckt, diese Zahlen zeigten, man könne ja (mehr Geld ausgeben), wenn man nur wolle. Doch so einfach ist die Sache nicht, denn die großzügig wirkenden Ausgaben des ostdeutschen Trios haben ihren Grund in der Kombination von überbordendem historischen Erbe (mit den entsprechenden Kosten) und stetig sinkender Einwohnerzahlen. Thüringen zählt aktuell knapp 2,2 Millionen Menschen – 500.000 weniger als 1990. Dieser Rückgang verstärkt sich zudem noch mal quasi selbst: Weil unter den bisher Abgewanderten die Frauen im gebärfähigen Alter stark überrepräsentiert sind, ist mittelfristig auch die Geburtenrate des Landes überproportional gesunken. Der Effekt nennt sich Demografisches Echo. Die jüngste Bevölkerungsprognose der Bertelsmann-Stiftung geht deshalb trotz steigender Zuwanderung von einem nochmaligen Rückgang um 10 Prozentpunkte bis 2030 aus. Thüringen hätte dann weniger als zwei Millionen Einwohner, rund ein Viertel weniger als nur eine Generation zuvor.

Viele dieser Probleme hatte bereits die letzte Landesregierung erkannt und eine Neukonzeptionierung der Landeskulturpolitik eingeleitet. Nach der Erarbeitung eines „Kulturellen Leitbildes“ im Jahr 2010, wurde zwei Jahre später ein „Kulturkonzept des Freistaates Thüringen“ vorgelegt. In dessen Folge begann auch ein Modellprojekt zur exemplarischen Überwindung der Kirchturmspolitik im ländlichen Raum: In den soziodemografisch sehr verschiedenen Doppelkreisen – Nordhausen/Kyffhäuser Kreis in Nordthüringen und Hildburghausen/Sonneberg direkt an der Südgrenze zu Bayern – wurden Regionale Kulturkonzepte erarbeitet. Der Potsdamer Kulturberater Patrick Föhl und der Leiter des Bonner Instituts für Kulturpolitik, Norbert Sievers, begleiteten diese Verfahren zur kulturellen Bestandsaufnahme, Netzwerkanalyse und der Erarbeitung von Handlungsempfehlungen. Das Land stellte für den mehrjährigen Prozess eine halbe Million Euro bereit.

 

Dessen tragenden Säulen seien „Kommunikation, Koordination und Kooperation“, sagte Föhl bei einer Präsentation des Projektes in Berlin. Wie so oft hätten auch hier viele Akteure in ein und derselben Region sich bisher nicht persönlich gekannt, mitunter noch nicht einmal voneinander gehört. So ergab die Bestandsaufnahme in den beiden südthüringischen Modellkreisen Hildburghausen und Sonneberg sage und schreibe 645 Kulturvereine – bei gerade mal 122.000 Einwohnern. Da hätten nicht nur die erfahrenen Kulturplaner Sievers und Föhl gestaunt, sagte letzterer: „Dieser Reichtum war vor allem den Verantwortlichen vor Ort gar nicht bewusst.“ Vor allem für die sehr vielen sehr ähnlichen Institutionen in den kleinen Gemeinden und Städten liegt hier viel Synergie-Potential, zum Beispiel in der Verwaltung oder auch durch gemeinsame Vermarktung beim Kulturtourismus. In der Erfurter Landesregierung ist man hochzufrieden mit den bisherigen Ergebnissen des Verfahrens. Es sollen Mittel in seine Verstetigung fließen, kündigte Kulturabteilungsleiterin Elke Harjes-Ecker an, auch wolle man die strukturellen Erkenntnisse anderen Körperschaften zugänglich machen und wo möglich zur Nachahmung empfehlen.

 

Die neue rot-rot-grüne Landesregierung unter Ministerpräsident Bodo Ramelow hat sich in ihrem Koalitionsvertrag explizit zum Erhalt und sogar Ausbau der Kulturlandschaft sowie der bisherigen Kulturausgaben bekannt. Der neue Kulturminister Benjamin-Immanuel Hoff ist zwar nicht mehr wie Amtsvorgänger Christoph Matschie mit dem zusätzlichen Pfund des stellvertretenden Ministerpräsidenten ausgestattet, dafür aber ein ausgewiesener Kulturmensch. Hinter vorgehaltener Hand hört man aus vielen Mündern: „Mit dem tut sich was, auch atmosphärisch!“ Gerade in diesem Punkt hatte Matschie nicht immer glücklich agiert, doch gerade Landespolitik erfordert den sorgsamen Umgang mit regionalen Befindlichkeiten. Das gilt im kulturell vielfältigen Thüringen vielleicht noch ein bisschen mehr als andernorts.

 

Zu den Profiteuren der Regionalen Kulturkonzeption in Hildburghausen/Sonneberg zählt sich auch Eisfelds Bürgermeister Sven Gregor. Vielleicht wäre ein Zweckverband der kleinen Museen im Kreis eine Möglichkeit, die bescheidenen Mittel der einzelnen Häuser in gemeinsamer Administration oder Vermarktung zu bündeln. Letzteres hat das Eisfelder „Kuhschwanzfest“ nicht mehr nötig, die Party stößt bereits an ihre räumlichen und personellen Grenzen. Woher der tierische Name der Pfingstsause stammt, ist übrigens bis heute nicht abschließend geklärt. Er könnte von einem Vieh-Umzug der traditionsreichen „Asfaller Hammelsäck“ herrühren, den man in der nahe gelegenen Residenzstadt Hildburghausen dereinst als „Kuhschwanzfest“ verächtlich zu machen suchte. Da hätte sogar die früher herrschende Missgunst innerhalb der heutigen Kulturkonzept-Modellregion noch was Gutes gehabt. In Thüringen lauert das historische Erbe eben einfach überall.

 

Der Text ist zuerst in Politik & Kultur 05/2015 erschienen.

Peter Grabowski
Peter Grabowski ist kulturpolitischer Reporter.
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