Luther und der Staat: Kann sich die Kirche der Reformation zur Zivilgesellschaft bekennen?

„Es [ist] wieder an der Zeit, die Weltlichkeit der Kirche beherzt abzulegen. […] Eine vom Weltlichen entlastete Kirche vermag gerade auch im sozial-karitativen Bereich, den Menschen […] die besondere Lebenskraft des christlichen Glaubens zu vermitteln.“

 

Mit dieser Bemerkung entfachte Papst Benedikt XVI. im September 2011 erneut eine Diskussion um die Nähe der Kirchen zum Staat. Und wenn sich auch die (katholische) Deutsche Bischofskonferenz beeilte, darauf hinzuweisen, dass der Papst am bewährten System der Kirchensteuer nicht rütteln wollte, so hat er doch ausdrücklich die Enteignung von Kirchengütern gutgeheißen, damit das Verhältnis von Kirche und Staat der ständigen Prüfung anheimgegeben und möglicherweise, so lässt sich der Kontext durchaus interpretieren, eine Zuordnung der Kirche zur Zivilgesellschaft befürwortet. Diese Zuordnung ist den USA selbstverständlich. Dort dominiert Religion das Leben heute viel stärker als in Europa, aber eine Vielzahl von Kirchen und Religionsgemeinschaften muss in Respekt voreinander koexistieren und mehr als ein Drittel der Bürgerinnen und Bürger gehört nicht derjenigen an, in die sie hineingeboren wurden. Zivilgesellschaftliches Selbstverständnis prägt geradezu das kirchliche Leben in den USA.

 

Anders in Deutschland: Eine Vielzahl von Bindungen und nicht zuletzt ihr Status als Körperschaften des öffentlichen Rechts lässt eher eine Zuordnung der großen Kirchen zur staatlichen Arena zu. Dass in einigen deutschen Ländern (auf Grund der jeweiligen Konkordate beziehungsweise Verträge) Bischöfe einen Treueeid auf die Verfassung ablegen müssen, ist ein prägnantes Indiz dafür. Niemand käme auf die Idee, Ähnliches vom Präsidenten des Deutschen Olympischen Sportbundes, des Deutschen Gewerkschaftsbundes oder auch dem Vorsitzenden einer politischen Partei, allesamt gesamtgesellschaftlich höchst einflussreiche Organisationen, zu verlangen.

 

Wenn es aber stimmt, dass die Kirchen auf der Meso-Ebene angekommen sind, also nicht in Anspruch nehmen können oder wollen, die Gesamtgesellschaft zu umfassen oder zu repräsentieren und die Abgrenzungen von rein freiwilligen Assoziationsformen gleich ob religiösen oder anderen Charakters, wie sie noch Max Weber und Ernst Troeltsch getroffen haben, obsolet sind, dann hat José Casanova gewiss mit seiner Einschätzung Recht, dass sich ein Staatskirchentum mit dem für moderne Gesellschaften prägenden Prinzip der Religionsfreiheit nicht verträgt und die Zivilgesellschaft der genuine Ort der Kirchen ist. Reinhard Marx, heute Kardinal-Erzbischof von München und Freising, zog daraus schon 2002 eindeutige Konsequenzen, als er von einem „spezifische[n] Beitrag der Kirche in der Zivilgesellschaft“ sprach.

„Eine Entweltlichung im Sinne einer Entstaatlichung scheint (…) nicht erstrebenswert zu sein.“

Von evangelischen Theologen und Kirchenführern ist zu diesem Thema viel weniger Eindeutiges zu hören, auch wenn in den letzten Jahren Zivilgesellschaft etwa an evangelischen Akademien intensiver diskutiert wird als an katholischen – und obwohl die zivilgesellschaftlichen Initiativen in Ostdeutschland vor und während der Wende von 1989 stärker mit der evangelischen Kirche zu assoziieren sind. Dies mag zunächst erstaunen, wird doch die evangelische Kirche landläufig eher als die liberale, fortschrittliche und zukunftsorientierte wahrgenommen. Doch wird anscheinend die bewusste eigene Standortbestimmung als Akteurin in der zivilgesellschaftlichen Arena gescheut oder vermieden. Ist sie also „weltlicher“? Eine Entweltlichung im Sinne einer Entstaatlichung scheint zumindest nicht erstrebenswert zu sein. Mir scheint dies mit dem historischen und kulturellen Selbstverständnis des Luthertums erklärbar zu sein. Die lutherische Kirche ist als Landeskirche konzipiert, sich hiervon zu lösen, ein großer und noch nicht vollzogener Schritt.

 

Schon in seiner 1520 veröffentlichten Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation“ stellte Luther fest: „Drum sag ich: dieweil weltliche Gewalt von Gott geordnet ist, die Bösen zu strafen und die Frommen zu schützen, so soll man ihr Amt lassen frei gehen ungehindert durch den ganzen Körper der Christenheit, ohne Rücksicht auf irgend jemand, sie treffe Papst, Bischof, Pfaffen, Mönche, Nonnen oder was es ist.“ In den Folgejahren hatte sich die lutherische Reformation einer ganzen Fülle von weitergehenden Reformationsbewegungen zu erwehren. Nachdem aber das Reich nach wie vor katholisch geführt war und die Reformation ebenso unter Druck setzte, konnte diese nur gelingen, indem sich die Bewegung eng an die Landesfürsten anlehnte, die die Reformation mittrugen. „Aufs Ganze gesehen, wurde im lutherischen Deutschland […] nicht die freie christliche Kirche realisiert, sondern die […] christliche Fürstenherrschaft.“

Rupert Graf Strachwitz
Rupert Graf Strachwitz ist Politikwissenschaftler und leitet das Maecenata Institut für Philanthropie und Zivilgesellschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin.
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