Luther und der Staat: Kann sich die Kirche der Reformation zur Zivilgesellschaft bekennen?

Es waren also nicht eigentlich theologische Positionen Luthers, die diese Entwicklung beförderten. Im Gegenteil, seine Zwei-Reiche-Lehre wäre eher mit dem Entweltlichungsgedanken Papst Benedikts kompatibel gewesen. Vielmehr bedingte der kulturelle Rahmen, der „Zusammenhang von kirchlichem und nationalem Schicksal im 16. Jahrhundert“ diese Entwicklung. Diese war kein deutsches Spezifikum und schon gar nicht ein Ergebnis der Reformation. So war beispielsweise Luthers Forderung nach Unterstellung der Kleriker unter die weltliche Obrigkeit schon zirka 1475 von Jan Ostrorog, Kastellan von Posen in Polen in einem „Memorandum, zur Neuordnung des Gemeinwesens zusammengestellt“ in sehr ähnlicher Form erhoben worden. Das Gemeinwesen bedurfte in der Tat dringend einer Neuordnung. Das über die Jahrhunderte zuvor gewachsene politische Ordnungssystem war zu einem undurchschaubaren und an vielen Stellen defizitären, ja korrupten Geflecht entartet. Niccolò Macchiavellis berühmte, 1513 erschienene Schrift ‚Der Fürst‘ führte das Konzept eines neuen, auf die Bedürfnisse des Menschen zugeschnittenen Staates in das allgemeine politische Gedankengut ein. Unter anderem entstanden eine territorial ausgerichtete Herrschaft und allmählich auch ein Gewaltmonopol in der Hand eines Souveräns. Wenn sich aber auf der Grundlage solchen Gedankenguts Nationalstaaten und Nationalkirchen herausbildeten, ergab sich für Deutschland das bis heute durchaus virulente Problem, welcher Nationalbegriff zugrunde zu legen sei. Sie wurde in diesem und im folgenden Jahrhundert wesentlich zugunsten der Fürsten und gegen das Reich entschieden.

 

Mit diesem Hinweis soll natürlich nicht eine Auffassung wiederbelebt werden, wie sie im 19. Jahrhundert, namentlich auch von Leopold von Ranke vertreten wurde: Die Reformation sei überhaupt wesentlich eine „nationale Bewegung“ oder „das wichtigste vaterländische Ereignis“. Luthers zu allererst religiöser Impetus ist heute gewiss unstrittig. Doch ist nicht zu bestreiten, dass politische und religiöse Neuordnung im 16. Jahrhundert in enger Wechselbeziehung erfolgten, auch nicht, dass die weltlichen Obrigkeiten Bedrohungsängste, die die Rezeption einer neuen Religiosität zweifellos begünstigten, „zum Ausbau der sozialen Kontrolle über den Menschen durch den Staat“ instrumentalisierten. Das Ergebnis ist bekannt. Es entstanden in den Ländern, die sich der Reformation anschlossen, überwiegend national geprägte Kirchen, in Sachsen und Brandenburg ebenso wie im Herzogtum Preußen, in England und den skandinavischen Ländern. Die Verfestigung der Idee der nationalen Staatssouveränität in den folgenden Jahrhunderten – durch Bodin, Hobbes, Pufendorf, Herder, Kant, Hegel und andere, mit Ausnahme Bodins übrigens durchweg Protestanten und überwiegend mit theologischer Ausbildung, tat ein Übriges, um die vielfach beschworene Einheit von Thron und Altar zu festigen und letztlich auch Rankes Fehlinterpretation der Reformation hervorzurufen. Von Kaiser Wilhelm II. wird behauptet, er sei nur mit Mühe davon abzuhalten gewesen, als summus episcopus (der er war) im bischöflichen Ornat mit Mithra und Stab aufzutreten.

„Theologisch scheint es keine Gründe zu geben, weshalb nicht auch die Kirchen der Reformation ein eindeutiges Bekenntnis zur Zivilgesellschaft (…) ablegen könnten.“

 

Demgegenüber ging die katholische Kirche spätestens ab dem Ende des 18. Jahrhunderts einen anderen Weg. Nachdem sie auch in den katholischen Ländern einen Großteil ihres Vermögens durch Säkularisation eingebüßt hatte (im Wesentlichen 1803, in den Ländern der Reformation hingegen schon 250 Jahre zuvor), hielt sie Abstand zu den Staaten und betonte ihren universalen, das heißt anti-nationalstaatlichen Anspruch. Dies führte, etwa im Kulturkampf in den 1870er Jahren, zu erheblichen Konflikten, bewahrte sie aber auch vor manchen Konflikten, in die die evangelischen Kirchen durch die Übersteigerung des Nationalismus hineingezogen wurden. Dies änderte sich auch nicht durch die republikanischen Neuordnungen nach 1918 und nach 1945. Dem inzwischen zum abstractum gewordenen Staat blieb – unabhängig von dessen Konstitution – die evangelische Kirche verhaftet, durchaus oft in kritischer Haltung, aber nicht mit der Distanz, die die katholische Kirche wahrte und ausbaute.

 

Diese erscheint daher besser gerüstet, um mit Ordnungskonzepten des 21. Jahrhunderts – der Entnationalisierung zugunsten supranationaler Systeme einerseits und der Entstaatlichung von Politik andererseits – zu kommunizieren und sich in einem Modell von mehreren Arenen kollektiven Handelns in der Arena der Zivilgesellschaft als wichtige Akteurin zu bewegen – und dies, obwohl es ihr theologisch schwerer fällt, den Respekt vor Pluralität zu akzeptieren, der zu den definitorischen Elementen einer guten Zivilgesellschaft gehört. Theologisch scheint es keine Gründe zu geben, weshalb nicht auch die Kirchen der Reformation ein eindeutiges Bekenntnis zur Zivilgesellschaft als „ihrer“ Arena ablegen könnten. Dass es ihnen schwer fällt, sich in der „Weltgesellschaft“ des 21. Jahrhunderts zu positionieren, ist ihrer kulturellen Tradition geschuldet, die ebenso zu respektieren ist, aber überprüft werden könnte.

 

Der Text ist zuerst in Politik & Kultur 01/2012 erschienen.

Rupert Graf Strachwitz
Rupert Graf Strachwitz ist Politikwissenschaftler und leitet das Maecenata Institut für Philanthropie und Zivilgesellschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin.
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