Luther in der Welt heute sehen

Das Reformationsjubiläum 2017 als einzigartige Chance Drucken

Was also tun, um 2017 diese Gefahren zu vermeiden? Gibt es denn keine andere Art und Weise, 2017 an 1517 zu erinnern? Lassen Sie mich drei alternative Szenarien knapp skizzieren.

 

Eine erste Möglichkeit bestünde darin, die Erinnerung an den Beginn der Reformation zusammen mit allen Mitgliedern der großen lutherischen Weltfamilie zu feiern. Erinnern wir uns: Am Beginn des 21. Jahrhunderts lebt die Mehrzahl der aktiven Lutheraner nicht mehr in Deutschland, auch nicht mehr in Norwegen, Schweden, Dänemark und Finnland, sondern in Ländern wie Namibia, Tansania, Nigeria, Madagaskar, Äthiopien, Brasilien, Chile, Kanada und den Vereinigten Staaten. Gerade außerhalb von Europa sind viele lutherische Gemeinden derzeit lebendiger und vitaler als in den traditionell protestantischen Ländern. Dort wächst das Luthertum, während es hier schrumpft.

Luther war „Reformkatholik“

Von gemeinsamen Feiern zwischen lutherischen Gemeinden in Deutschland und Europa auf der einen und lutherischen Gemeinden in außereuropäischen Ländern könnten spannende Impulse ausgehen. Nicht mehr Wittenberg und Berlin stünden im Zentrum; gefeiert würde vielmehr an vielen Orten. Nicht mehr die deutschen Lutheraner beanspruchten die Initiative, geradezu das Monopol, in Sachen Lutherfeiern. Gefeiert würde vielmehr von allen, die in Luthers Tradition stehen. Lutheraner der unterschiedlichsten Couleur würden sich kennenlernen. Die Welt könnte staunend zur Kenntnis nehmen, wie reich, wie bunt und wie vital das Luthertum am Beginn des 21. Jahrhunderts ist. Des Weiteren wäre es möglich, in den kommenden zwei, drei Jahren auf die unterschiedlichen Kirchen, Richtungen und Gruppierungen, die aus der von Martin Luther angestoßenen Reformbewegung hervorgegangen sind, zuzugehen und zu überlegen, wie 2017 die Erinnerung an die Reformation gemeinsam gefeiert werden kann. Ich denke dabei nicht nur an die Reformierten, die bereits ihr Interesse am Jubiläum von 2017 sehr deutlich artikuliert haben, sondern auch an die Baptisten, die Methodisten, die Adventisten und alle anderen. Viele dieser Kirchen haben in den Städten und Dörfern unseres Landes ihre eigenen Gemeinden. Deshalb wäre es möglich, für 2017 lokale Veranstaltungen mit allen protestantischen Geschwistern zu organisieren, die einen je unterschiedlichen Schwerpunkt haben könnten. In solchen Begegnungen könnte ein besonderer Reiz liegen. Denn in einer Zeit der progressiven Säkularisierung und der extremen Fragmentierung des Christentums sollten diejenigen, denen die christliche Tradition noch etwas bedeutet, näher zusammenrücken. Das Jubiläum 2017 bietet dazu eine einzigartige Chance.

 

Ausgehend von der gemeinsamen Erklärung des Einheitsrates der Katholischen Kirche und des Lutherischen Weltbundes, die vor kurzem unter dem Titel „Vom Konflikt zur Gemeinschaft. Gemeinsames lutherisch-katholisches Reformationsgedenken im Jahr 2017“ erschienen ist, könnte das 2017 anstehende Jubiläum schließlich dazu benützt werden, die immer noch bestehende Kluft zwischen den beiden großen Kirchen ein Stück weiter zu schließen. Als Vorbereitung auf 2017 könnten lokale Projekte zur Aufarbeitung der konfessionellen Konfliktgeschichte lanciert werden. Beispielsweise könnten katholische und protestantische Jugendliche konfessionsverschiedene Ehepaare befragen, mit welchen Problemen sie in ihrer Ehe aufgrund der Konfessionsdifferenz im Laufe der Jahre konfrontiert waren, beginnend mit der Eheschließung und weiter bei der Taufe und Erziehung der Kinder. Außerdem würde es sich lohnen, sich erneut mit der Theologie des Augustinermönchs Luther im Herbst des Jahres 1517 zu beschäftigen. Die interkonfessionelle Interpretation der 95 Thesen, die in Vorbereitung ist, böte dafür ein gutes Fundament. Staunend könnte man erfahren, dass der Luther der 95 Thesen beiden großen Kirchen „gehört“: Er hatte sich auf die Suche nach einer neuen Theologie gemacht und war somit Reformator; zugleich war er aber noch sehr bewusst und engagiert ein Mitglied seiner alten Kirche, eben ein Reformkatholik.

 

Der Text ist zuerst in Politik & Kultur 06/2013 erschienen.

Hartmut Lehmann
Hartmut Lehmann ist Historiker und war u.a. Direktor des Max-Planck- Instituts für Geschichte in Göttingen und Gründungsdirektor des Deutschen Historischen Instituts Washington D. C.
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