Erinnerungskultur und Jubiläumsgestaltung

Wie entsteht Geschichtsbewusstsein und was bedeutet es für das Reformationsjubiläum 2017

Im Jahr 1992 wurde in einem nicht unerheblichen Umfang der 500-jährigen Entdeckung Amerikas gedacht; aber natürlich wurde genau besehen 1492 nicht Amerika entdeckt, sondern eine kleine Insel in der Karibik. Die Spannung zwischen historischer Exaktheit und aktueller Gedächtniskultur ist eine prinzipielle, denn das Erzählen von Geschichten hat im Gegensatz zur historischen Rekonstruktion von Geschichte mit Vergegenwärtigung zu tun. Geschichte zu aktualisieren braucht vedichtende, also dichterische Begabung, sonst wird aus „der“ Geschichte nicht „meine“ bzw. „unsere“ Geschichte.

 

Natürlich kann dieses Prinzip missbraucht werden, man kann sich Geschichte zurechtlegen, sie mit Pathos aufladen oder mit Interessen überlagern; dagegen hilft nur Historisierung. Aber man kann bei dieser Historisierung nicht stehen bleiben, sonst bleibt die Geschichte in der Geschichte stecken. Man muss das Risiko des Missbrauchs kennen und reflektieren, aber nicht scheuen und vermeiden. Will man für ein Geschichtsdatum eine aktuelle Relevanz und eine zukunftsweisende Bedeutung entfalten, darf man es nicht allein der historischen Forschung überlassen. Sie können die historischen Fakten in ihrer Fremdheit und Distanz zu den heutigen Lebenssituationen aufzeigen, aber ein Erweis der gegenwärtigen Relevanz der Erinnerung gelingt so nicht.

 

Man kann für das Verständnis und für die Gestaltung des Reformationsjubiläums 2017 aus diesen Reflexionen über das Erinnern einiges lernen: Dass der Augustinermönch und Theologieprofessor Martin Luther 95 Thesen zur Bußpraxis verfasste, ist historisch unstrittig; ob aber er selbst oder ob jemand anders oder ob überhaupt jemals die 95 Thesen an die Schlosskirchentür zu Wittenberg geschlagen wurden, ist historisch umstritten, existenziell aber irrelevant. Denn dieser Thesenanschlag wurde schon zu Lebenszeiten Luthers zum Symbol jener Reformbewegung, die in wenigen Jahren ganz Europa ergriff und zu tiefgreifenden Wandlungen der ganzen intellektuellen, kulturellen und politischen Welt führte.

„Es geht auch beim Reformationsjubiläum um verdichtetes Erinnern und Erzählen“

Faktisch also wird beim 500. Jubiläum 2017 nicht der historischen Wahrhaftigkeit des Thesenanschlages gedacht, sondern dem symbolischen Beginn einer umfassenden Dynamik. Es geht auch beim Reformationsjubiläum um verdichtetes Erinnern und Erzählen, – und zwar immer so, dass die zeitbedingte Relevanz in die Geschichte hineingelesen wird. Aus einer historischen Erinnerung wird durch den Bezug auf den »Zeitgeist« eine existentiell relevante Erzählung. Und nur wer relevant erzählen kann, kann im Wettbewerb des Erinnerns bestehen.

 

Heute fragt eine Generation des 21. Jahrhunderts nach dem, was am Reformationsjubiläum relevant und wichtig ist. Jede Interpretation und entsprechende Gestaltung des Jubiläums ist daher »zeitgeistbedingt«; wer bei der Jubiläumsgestaltung den Zeitgeist vermeiden will, feiert allein. Welche Fragen aber treiben die Gegenwart um? Welches »Zurück in die Zukunft« interessiert heute, nicht allein die reformatorisch geprägten Kirchen, auch nicht nur die Christen, sondern alle Menschen?

 

Die Reformation hat das Gewissen des einzelnen Menschen ins Zentrum gestellt und einen Mentalitätswandel initiiert, der sich zweifellos nicht sofort und überall durchsetzte, der aber wesentliche Tiefenschichten des Lebens prägte. Durch die reformatorische Entdeckung ist eine neue innere Freiheit des Menschen in die Welt gekommen, die seither nie wieder gänzlich zu vertreiben gewesen ist. Reformation ist die (Wieder-)Entdeckung einer inneren Freiheit, weswegen sich die allermeisten wirkmächtigen Erzählungen um diese neue Freiheit ranken: Luthers Thesenanschlag, Luthers mutige Antwort vor Kaiser und Reich, Luthers Heirat mit Katharina, aber auch Zwinglis Wurstessen in der Passionszeit, Calvins gesellschaftlicher Gestaltungswille, Melanchthons Bildungsoffensive, Bugenhagens neu fundierte Nächstenliebe u.a.m., – die Reformationserzählungen, die durch die Jahrhunderte hindurch fasziniert haben, sind Geschichten der Freiheit und des Mutes, des Aufbruches und des Selbstbewusstseins. Und selbst das neue, wenn auch noch nicht moderne Frauenbild der Reformation atmet diesen aufrechten Gang.

 

Existentiell gesehen lebt die Reformation in der Erinnerung der Menschen von einer Mischung aus angstloser Freiheit und mutigem Selbstbewusstsein, die sich nicht nur gegen die damaligen Autoritäten von Kirche und Staat behaupteten, sondern auch bewährten in den existentiellen Dimensionen der Nähe und der Liebe, der Freundschaft und des Vertrauens. Von der Reformation lässt sich nach meiner Überzeugung daher für das 21. Jahrhundert erzählen als Befreiung aus der Angst, gleichsam als eine Entängstigungs-Bewegung, die in der Einkehr bei Gott gründete und zum verantwortlichen Aufbruch in die Welt führte. Dieses neue Selbstbewusstsein des aus der Angst seiner Zeit befreiten Menschen vermag die Aktualität und Relevanz der Erinnerungen an die Reformation bündeln.

 

Natürlich: Wer solche Freiheit in die Mitte des Geschehens stellt, darf sich über entstehende Vielfalt nicht wundern. Und man hätte es mit Heiligen zu tun, wäre dieses Licht der Freiheit nicht auch in der Reformation wieder verraten und verdeckt, geleugnet und missbraucht worden. Weder Martin Luther noch die anderen Reformatoren waren frei von Schuld. Der höchst polemische Umgang mit den Altgläubigen und dem Papst, die brutalen Aussagen des alten Luthers über die Juden, die grausame Verfolgung der Täufer und der Bauern u.a.m. werfen schrecklich dunkle Schatten auf diesen einzigartigen Aufbruch. Aber darüber sollte die Entdeckung der Reformation nicht vergessen werden: Dass nämlich auch heute noch davon erzählt werden kann, wie jener kleine Mönch Martin Luther vor dem großen Kaiser und dem ganzen Reich in Worms Freiheit und Mut gezeigt hat. Und dies wird mit den vermeintlich gesagten Worten: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir. Amen“ sehr treffend erinnert.

 

Der Text ist zuerst in Politik & Kultur 05/2013 erschienen.

Thies Gundlach
Thies Gundlach ist Vizepräsident des Kirchenamtes der EKD und Leiter der Hauptabteilung "Kirchliche Handlungsfelder und Bildung".
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