Gesellschaftlicher Resonanzraum

Deutscher Evangelischer Kirchentag 2017 in Berlin und Wittenberg?

Der Deutsche Evangelische Kirchentag wurde 1949 durch Gustav Heinemann, den nachmaligen Bundespräsidenten, zu einer „Einrichtung in Permanenz“ ausgerufen. Die frühen Kirchentage im geteilten Deutschland waren Diskussionsforen für die politischen und religiösen Großthemen, die das Land bewegten – die Integration der Vertriebenen, die Unterdrückung der Christinnen und Christen in der DDR, das Verhältnis der Machtblöcke in Ost und West. In den 1960er-Jahren gab der Kirchentag wichtige Impulse für den Dialog mit dem Judentum und für den ökumenischen Dialog zwischen der römisch- katholischen und der evangelischen Kirche – in dieser Reihenfolge! In den späten 1970er-Jahren begann das Gespräch mit den Muslimen.

 

Die Anstöße und Ideen entwickelten sich selten entlang von Jahrestagen, sondern durch Vertrauen der Beteiligten und den Mut, kontroverse Themen in einer öffentlichen Diskussion auszutragen. Kirchentage sind bis heute Resonanzräume gesellschaftlicher Diskussionen und religiöser Großwetterlagen, die Entwicklungen auf den Punkt bringen, verstärken oder differenzieren können. Jüngstes Beispiel ist die Losung des Hamburger Kirchentages „Soviel Du brauchst“, die auf dem Hintergrund der Debatte um Steuerhinterziehung als ein Ruf zur Vernunft und zu Maßhalten gesehen und zitiert wurde. Die oberen Zehnttausend können nicht genug bekommen, während Andere schlicht zu wenig bekommen. Mit dieser Losung wurde die Kraft des religiösen Argumentes für die Gestaltung der Gesellschaft blitzlichthaft sichtbar. Eine so konkrete Anwendung einer Losung lässt sich nicht im Voraus planen, aber die Grundtendenz des Kirchentages, in evangelischer Freiheit für eine liberale und gerechte Gesellschaft zu streiten, ist durch die Jahrzehnte erkennbar geblieben. Seit der Jahrtausendwende ist die Einsicht hinzugetreten, dass es heute wieder wichtiger wird, die Quellen, aus denen sich christliche Überzeugungen speisen, freizulegen und zum Sprudeln zu bringen. Denn das Packeis einer selbstverständlichen Kirchlichkeit ist in fast allen Regionen Deutschlands geschmolzen. Was liegt da näher, als eine Großveranstaltung, die die Leichtigkeit des Glaubens mit dem ernsthaften Anliegen politischer und gesellschaftlicher Gestaltung verbindet?

 

Unter diesen Prämissen ist das Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentages an die Überlegungen für einen Kirchentag im Jahr 2017 gegangen. Ihm gehören etwa 30 Menschen aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft an, die ehrenamtlich Verantwortung für den Kirchentag übernommen haben. Sie sind der verfassten Kirche weder persönlich noch institutionell verpflichtet. Der Kirchentag ist auf Vereinsbasis organisiert, was seine Unabhängigkeit sichert. Die ersten Überlegungen des Präsidiums zum Jahr 2017 gingen der Frage nach, welche Position der Kirchentag im Wechselspiel mit den kirchlich organisierten Feierlichkeiten einnimmt. Kurz gefasst war die Frage: Reformation feiern oder bewusst einen Kontrapunkt setzen? Auf dem Hintergrund dieser Überlegungen arbeitete 2009 eine Prüfgruppe des Präsidiums, die eine Verortung des Kirchentages in Mitteldeutschland prüfen sollte. Zehn Jahre vor dem Ereignis war der deutliche Wunsch aus Mitteldeutschland zu hören, der Kirchentag solle im Ursprungsland der Reformation stattfinden. Dahinter stand der Wunsch, das durch Nazi- und DDR-Diktatur dezimierte und teilweise verschüttete Erbe der Reformation an ihren Originalschauplätzen zu beleben. Daraus speiste sich die Erwartung, dass die Aktualisierung der Reformationsbotschaften Impulse für die am stärksten säkularisierte Region Europas geben kann und von dort Ausstrahlungskraft entwickelt.

„Der Kirchentag 2017 bedarf keiner besonderen Begründung, aber einer Botschaft.“

Die 2009 vom Präsidium einberufene Prüfungsgruppe votierte für ein Berlin-Wittenberg-Konzept, das seitdem auf seine Machbarkeit hin untersucht wurde. Noch ist das letzte Wort nicht gesprochen – ein hochkomplexes Projekt bedarf der ausreichenden Unterstützung durch kirchliche und staatliche Stellen. Aber die beiden Kirchen, die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und die Evangelische Kirche Mitteldeutschlands haben eine Einladung zu einem Kirchentag in Berlin und Wittenberg ausgesprochen und seitdem wird intensiv an der Umsetzung gearbeitet. Für den Teil des Kirchentages, der in Wittenberg und in Mitteldeutschland geplant ist, gibt es zum ersten Mal in der Geschichte des Kirchentages eine institutionelle Kooperation mit der Evangelischen Kirche in Deutschland. Die Idee ist, die Kräfte des Protestantismus zu bündeln und gemeinsam einen reformatorischen Gottesdienst zu feiern.

 

Der Kirchentag 2017 bedarf keiner besonderen Begründung, aber einer Botschaft. Im Präsidium besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass eine Beteiligung des Kirchentages an „Lutherfestspielen“ nicht in Frage kommt. Eine vorwiegend historische Schwerpunktsetzung (Luther und die Frauen, Luther und die Theologie, Luther und der Staat etc.) ist kein Konzept für den Kirchentag. Stattdessen ist nach zwei ökumenischen Kirchentagen deutlich, dass die Verantwortung des Kirchentages für die Gestaltung der Ökumene in Deutschland gewachsen ist. Der ökumenische Fokus umfasst nicht nur die römisch-katholische, sondern auch die orthodoxen Kirchen und die Freikirchen. Das Reformationsjubiläum bietet eine große Chance, gemeinsam mit den anderen Konfessionen über das Wesen des Christentums im 21 Jahrhundert nachzudenken. Wie geht es weiter im interkonfessionellen und im interreligiösen Dialog? Längst ist der Kirchentag zu einem der wichtigsten Foren für den interkulturellen und interreligiösen Dialog geworden. Welche Position messen wir der Religion in einer säkularen Gesellschaft bei und wie füllen wir sie als Christinnen und Christen im Alltag aus? Gemeinsame Vorbereitungsgruppen mit anderskonfessionellen Christinnen und Christen wie bei Ökumenischen Kirchentagen, der Kirchentagsfreitag als ökumenischer Tag – hier ist vieles denkbar.

 

Natürlich muss ein Kirchentag 2017 auch die Chance bieten, über den Zustand des Protestantismus, über die Realität des Priestertums aller Gläubigen, über den Zustand der Kirche, der Theologie im 21 Jahrhundert nachzudenken und eine zeitgemäße und ansteckende Formulierung der reformatorischen Befreiungserfahrung zu finden. Die Reformation hat viele und sehr verschiedene Früchte getragen. Sie war keine einheitliche, zentral von Wittenberg gesteuerte Bewegung. Wenn der Kirchentag die Verantwortung für einen Großgottesdienst zum Reformationsjubiläum übernimmt, dann wird das Ambivalente und das Vielfältige theologisch und liturgisch darin vorkommen. In diesen Kontext gehört auch die Feier der weltweiten Ökumene, die im Kirchentag eine große Tradition hat. Das internationale Interesse an einem Deutschlandbesuch wird im Jahr 2017 hoch sein.

 

Die Reformation war eine europäische Bewegung. Blicken wir heute auf Europa, dann scheinen die Zukunftsaussichten düster, Europa steckt nicht nur in einer Schulden- und Finanzkrise, sondern auch in einer Orientierungs- und Wertekrise. Selbst wenn wir davon ausgehen, dass die Finanzkrise der letzten Jahre 2017 vielleicht überwunden sein wird – die Diskussion um das Gemeinschaftsprojekt wird weitergehen. Auf Kirchentagen war bis zum Jahr 2013 die Erfahrung zu machen, dass Europa als „Thema“ eher leere Hallen produziert. Anders in Hamburg 2013 – die Sorge um Europa treibt die Menschen wieder um und eine hochkarätig besetzte Podienreihe fand viel Publikum. Wenn der Anknüpfungspunkt Reformation als europäische Bewegung fruchtbar gemacht werden kann für die Idee einer neuen europäischen Reformation jenseits des Primats der Ökonomie, könnte das ein neuer, überraschender und folgenreicher Ansatz sein.

 

Der Text ist zuerst in Politik & Kultur 04/2013 erschienen.

Ellen Ueberschär
Ellen Ueberschär ist Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentages.
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