Die Reformatoren waren nie in Afrika

Streiflicht zur Entwicklung der lutherischen Kirchen in Afrika und zu gegenwärtigen Herausforderungen

Weltweit bekennen sich 74 Millionen Menschen auf allen Kontinenten der Erde zur lutherischen Konfession. Nach der Statistik zählt zwar immer noch Europa zum mitgliedsstärksten Kontinent des Lutherischen Weltbundes (LWB), gefolgt von Afrika mit über 20 Millionen Mitgliedern. Neben den Lutheranern stellen jedoch auch die von Huldrych Zwingli (Zürich) und Johannes Calvin (Genf) ausgehenden Reformierten eine stattliche Anzahl von Christen auf dem afrikanischen Kontinent. Von den Reformatoren ist in Afrika jedoch wohl am besten Martin Luther bekannt. Die bedeutendsten lutherischen Kirchen Afrikas sind in Äthiopien, Tansania, Madagaskar, Nigeria, Namibia und Südafrika zu finden. Geradezu spektakulär wächst die Mitgliederzahl der Lutheraner in Äthiopien. Sie hat sich innerhalb der letzten 20 Jahre vervierfacht und ist heute auf knapp sechs Millionen Mitglieder angewachsen. Attraktiv macht die Äthiopische-Evangelische Kirche Mekane Yesus u.a., dass in ihr in den gängigen Landessprachen gepredigt und gelehrt wird. Ganz im Sinne des Anliegens von Martin Luther, der als »Kirchensprache« im Gottesdienst die lateinische Sprache durch die deutsche ablöste und empfahl, dem Volk »aufs Maul« zu schauen. Anders sieht dies in der altehrwürdigen Äthiopisch-Orthodoxen Kirche aus, in der nach wie vor die von den Gläubigen nicht mehr verstandene alte Kirchensprache »Ge‘ez« in Gebrauch ist.

 

In Namibia gehören fast drei Viertel der Bevölkerung einer der drei lutherischen Kirchen an, die aus der deutschen und finnischen Missionstradition entstanden sind. Eine davon, ähnlich wie in Südafrika, ist die deutschsprachige lutherische Kirche, die aus der Auswanderertradition hervorgegangen ist. Seit vielen Jahren streben die sogenannten weißen und schwarzen Kirchen in Namibia und Südafrika nach einer gemeinsamen Kirchenstruktur. Die leidvollen Erfahrungen der Trennung, insbesondere aus der Apartheidzeit, werden nur langsam überwunden. Insgesamt ist jedoch festzustellen, dass das Luthertum auf dem gesamten Kontinent mit ca. 4 bis 5 Prozent eine Minderheit unter den christlichen Konfessionen und ca. 2 Prozent unter der Gesamtbevölkerung Afrikas darstellt. Großen Zulauf erhalten in Afrika im Allgemeinen nicht die aus der europäischen Missionstradition entstandenen Kirchen, wie die Lutheraner, Methodisten oder Anglikaner, sondern eher evangelikale, ja oft auch kurios fundamentalistische christliche Strömungen, die sowohl ihren Ursprung in Afrika selbst haben oder aus der »Neuen Welt« nach Afrika importiert werden.

In Afrika bekennen über 20 Millionen Menschen zur lutherischen Konfession.

Erst spät gelangte die lutherische Lehre nach Afrika. Mit zu den ersten deutschen Missionaren zählen die Herrnhuter, die im Jahre 1734 unweit vom heutigen Kapstadt den Ort Gnadenthal gründeten. Bei der Herrnhuter Brüdergemeinde, bekannt hier- zulande auch durch den Herrnhuter Adventsstern, handelt es sich um eine Kirche, die ihre Wurzeln in der böhmischen Reformation hat und sich dem Luthertum eng verbunden weiß. Den Herrnhutern folgten Missionare verschiedenster Missionsvereine aus Deutschland. Manche begannen ihre Arbeit auch zeitgleich mit der Kolonialherrschaft. Aber auch lutherische Missionare aus Skandinavien und später USA waren in Afrika tätig. Allen ging es jedoch weniger um die Ausbreitung des »Luthertums«, sondern viel eher um den Kampf gegen den »Aberglauben in Afrika«. Die Anfänge dieser Missionsbewegung liegen also in einem eher pietistisch geprägten Anliegen. Eine Überhöhung oder gar Kult um Martin Luther ist Afrika unbekannt. Einem großen Teil der protestantischen Missionare kann, bei aller Würdigung ihrer großartigen Leistungen, nach heutiger Auffassung nachgesagt werden, dass sie nicht kultursensibel genug vor- gegangen sind. Und das nicht nur in der Kleiderfrage für Afrikaner. Deutlich wird dies auch durch das nach Afrika importierte Liedgut durch die Missionare. Wer einen auf Kiswahili gehaltenen lutherischen Gottesdienst in Ostafrika mit- feiert, wird sich sofort heimisch fühlen: Die Mehrzahl der Choräle sind aus dem deutschen Sprachraum übernommen und Wort für Wort übersetzt. Längst sind diese Lieder inzwischen »inkulturiert« und werden nach wie vor gerne gesungen, allen voran: »Eine feste Burg ist unser Gott.« Jedoch hat inzwischen auch neues, afrikanisches Liedgut Einzug gehalten. Die Trommel, von Missionaren als satanisches Werkzeug abgetan, hat endlich nach langem Zögern wieder Eingang in den Gottesdienst der Lutheraner in Afrika gefunden.

 

Aus den Anfängen der Mission sind heute zum Teil große, selbstbewusste lutherische Kirchen geworden, die neben der Wortverkündigung beachtliche Beiträge in den Bereichen Bildung und Diakonie leisten. Die Entsendung des klassischen Missionars aus dem Nor- den hat ihr Ende gefunden. An eigenen Hochschulen, z.B. in Makumira/Tansania oder Pietermaritzburg/Südafrika werden einheimische Theologen ausgebildet. Die Zusammenarbeit der deutschen evangelischen Kirchen und deren Missionswerke, des Evangelischen Entwicklungsdienstes und Brot für die Welt mit Kirchen in Afrika hat sich bezüglich des finanziellen Engagements in den vergangenen Jahrzehnten im Wesentlichen auf den entwicklungspolitischen Bereich, auf die Sektoren Bildung, Gesundheit, insbesondere HIV/Aids, und Schaffung von notwendigen Kirchenverwaltungsstrukturen konzentriert.

 

Der kritische Dialog über Glaubensinhalte hielt jedoch nicht Schritt mit den theologischen Entwicklungen in den jeweiligen Ländern des Südens oder des Nordens. Dieses Auseinandertriften stellt ein bedauerliches Defizit dar. So steht zum Beispiel gegenwärtig die weltweite Gemeinschaft der Lutheraner vor einer besonderen Zerreißprobe in der Frage der theologischen Bewertung der Homosexualität. Auf der einen Seite stehen die Kirchen insbesondere in Nordamerika und Europa, auf der anderen Seite ihre Partnerkirchen in Afrika. Der Lutherische Weltbund ist derzeit bemüht, die weltweite lutherische Gemeinschaft vor einem Zerbrechen zu bewahren.

 

Die Kirchen in Europa haben seit der Reformation einen bitteren Lernprozess in Fragen von Freiheit und Toleranz hinter sich. Ein weiteres Kapitel dieses Weges scheint sich in Bezug auf Afrika anzubahnen. Die Lutheraner im Norden werden auf dem Weg zum Reformationsjubiläum im Jahre 2017 mit ihren Verbündeten in Afrika wohl ein besonderes Kapitel von »Reformation und Glaube« und »Reformation und Toleranz« hinsichtlich sich anbahnender Verwerfungen aufschlagen müssen.

 

Der Text ist zuerst in Politik & Kultur 03/2013 erschienen.

Volker Faigle
Oberkirchenrat Dr. h.c. Volker Faigle ist Theologe beim Bevollmächtigten des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) bei der Bundesrepublik Deutschland und der EU. Er war viele Jahre verantwortlich für die Afrikaarbeit der EKD.
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