Wenn Insekten über Leichen gehen

Fliegen & Co. sind wichtige Zeugen bei Tötungsdelikten

Wir alle müssen sterben. Dies ist der unabänderliche Lauf der Dinge. Im besten Fall sterben wir hochbetagt, friedlich und glücklich, umringt von unseren Liebsten. Aber nicht allen Menschen wird dieses Schicksal zuteil. Eine kleine Gruppe stirbt allein, vermutlich in sprichwörtlicher Todesangst und wird Opfer eines Tötungsdeliktes. Werden diese Taten nicht bemerkt, so ist man nach kurzer Zeit nicht umringt von seinen Angehörigen, sondern von Fliegen, Käfern und ihren Maden und Larven. Man wird Teil des Ökosystems und es zeigt sich die erbarmungslose Effizienz der Natur. Nichts wird verschwendet.

 

Hierbei ist beispielsweise einem Waldökosystem egal, welches Lebewesen das Zeitliche gesegnet hat. Wichtig ist, dass dort an diesem räumlich sehr begrenzten Platz eine zeitlich begrenzte Ressource liegt. Denn im Vergleich zu Bäumen, die aufgrund ihrer langkettigen Molekülstruktur sehr lange, teilweise Jahrzehnte, für den Zerfall benötigen, sind größere Säugetiere nach wenigen Wochen verschwunden. Die Ressource Aas liefert für eine breite Palette an Tieren, hauptsächlich Insekten und ihren Entwicklungsstufen, Futter und für eine begrenzte Zeit auch Lebensraum und Schutz. Schmeißfliegen und Aaskäfer, Stutzkäfer und Kurzflügelkäfer, Käsefliegen und Buckelfliegen, Wespen und Schmetterlinge, Speckkäfer und Erdkäfer geben sich nach und nach ihr Stelldichein auf dem toten Körper. Einige der Insekten sind dabei so eng mit der Futterressource Aas verbunden, dass sie durch einen Konkurrenzdruck und feinste Sinne dazu in der Lage sind, den Tod auf Kilometer zu „riechen“. Schmeißfliegen erscheinen Minuten nach dem Ableben, teilweise sogar schon im Sterbeprozess, und beginnen mit der Eiablage. An diesem Punkt stehen sie im Fokus der forensischen Entomologie. Der Entwicklungszyklus vieler aasbesiedelnder Tiere ist gut erforscht und hauptsächlich von der Lufttemperatur und der Luftfeuchtigkeit abhängig. Zudem spielen externe Faktoren wie die Sonneneinstrahlung, die Bodenbeschaffenheit und der Artenreichtum des gesamten Ökosystems eine Rolle. Wohnungsleichen werden durch den Beleuchtungszustand und den Öffnungsgrad der Fenster beeinflusst.

 

Tritt der Tod ein, so ist es für die klassische Rechtsmedizin bis zu 72 Stunden möglich, anhand von Erscheinungen wie der Leichenstarre oder der Totenflecke den Sterbezeitraum einzugrenzen. Meistens gibt es aber, beispielsweise durch sommerliche Temperaturen, einen wesentlich kleineren Spielraum. Dann helfen die Insekten weiter. Kennt man die Art der vor Ort gesicherten Fliegenmaden und möglichst viele externe Faktoren, allem voran den Temperaturverlauf, so ist es möglich, das Alter der Made festzustellen. Liegt die Leiche in einem für Fliegen zugänglichen Bereich, so ist davon auszugehen, dass diese unmittelbar nach dem Tod damit beginnen, Eier auf die Leiche abzulegen. Kurze Zeit später schlüpft eine kleine Made aus dem Ei und beginnt mit dem Fraßprozess. Sie häutet sich zweimal, um dann im dritten Larvenstadium vom Leichnam abzuwandern und sich zu verpuppen. In der Puppe findet die Metamorphose zur Fliege statt. Nach einiger Zeit schlüpft die ausgewachsene Fliege und der Zyklus beginnt von vorn. Sitzt man also im Sommer grillend auf der Terrasse und eine kleine goldene Fliege landet auf dem Steak, so muss diese ihre „Jugend“ auf toter eiweißreicher Substanz verbracht haben. Sie können an dieser Stelle ihrer Fantasie freien Lauf lassen.

 

Aber nicht nur die reine Leichenliegezeit lässt sich anhand der Insekten bestimmen. Auch Intoxikationen können noch nach sehr langer Zeit nachgewiesen werden. Während Fliegen die ersten an der Leiche sind, so sind bei Wohnungsleichen bis zur kompletten Skelettierung Speckkäfer meist die vorherrschenden Vertreter der Insekten. Wenn also für die toxikologische Auswertung nichts mehr zu holen ist, da Blut, Mageninhalt und Urin längst verschwunden sind, so nehmen die Tiere im Fraßprozess noch Drogen, Medikamente, Abbauprodukte und Schwermetalle über den Leichnam auf und sind weiterhin auswertbar. Auch Leichenverlagerungen lassen sich nachweisen. Gibt es Diskrepanzen in der Artenzusammensetzung oder Größenverteilung zum Fundort oder der vorherrschenden Temperatur muss eine Umlagerung, beispielsweise zur Vertuschung einer Tat, in Betracht gezogen werden. Hier spielte bei einem Doppeltötungsdelikt in Leipzig ein Reisekoffer eine entscheidende Rolle. Im Koffer fanden sich Maden, welche sich an Flüssigkeitsresten labten. Mit diesen Tieren konnte der Zeitpunkt der Leichenverlagerung in einen Baggersee nachgewiesen werden bzw. wann der Koffer mit Leichenteilen in Berührung kam. Auch Lebende werden von Insekten nicht verschont. Gerade pflegebedürftige Personen sind hin und wieder von einer sogenannten Myiasis betroffen – also einer Besiedlung von Windeln, Verbänden oder Wunden, beispielsweise an Gangränen oder Druckgeschwüren. Hier kann mitunter nachgewiesen werden, wie lange eine Pflege ausgeblieben ist und ob es sich dabei um einen juristisch relevanten Zeitraum handelt.

 

Sehen Sie also das nächste Mal eine golden oder blau schimmernde Fliege, die Sie umkreist, verscheuchen Sie sie nicht, denn sie könnte ein wichtiger Zeuge sein.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 6/2021.

Marcus Schwarz
Marcus Schwarz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Rechtsmedizin der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig und als Sachverständiger für Forensische Entomologie und Wundballistik tätig. Er ist Autor des Buches „Wenn Insekten über Leichen gehen. Leipziger Entomologe auf der Spur des Verbrechens“, Droemer TB 2020.
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