Von der Kunst, Gesellschaft zu gestalten

Formen des Zusammenlebens

Das Ameisennest, der Termitenhügel, ein Bienenstock – sie sind Sinnbilder für das Zusammenleben vieler Individuen auf wenig Raum, das Funktionieren von Kollektiven, von Systemen der Arbeitsteilung, gemeinsamer Produktivität und Kreislaufwirtschaft. Auch in ihren Kommunikationsformen wird deutlich, dass Insekten zwar durchaus im Alleingang agieren, die Resultate ihrer Arbeit jedoch allgemein zugänglich machen und so zum Fortbestand ihrer Staaten und dem dazu notwendigen Austausch beitragen. Ob das die Ameisenstraße ist, die infolge eines Nahrungsfunds durch abgesonderte Duftstoffe entsteht, die Schwingungen und Klopfzeichen der Termiten, die ihre Artgenossen vor dem nahenden Feind warnen, oder der Tanz der Bienen, der – den Weg weisend – ebenfalls zur Nahrungsbeschaffung beiträgt. Es sind Handlungsformen, die in und aus der Gemeinschaft entstehen. Insekten lassen sich also, wie der Homo sapiens auch, als soziale Wesen bezeichnen, die sich je nach Kultur, Sozialisierung und standortbezogenen Faktoren unterscheiden. Sie stehen stets in Relation zu anderen, was sich sowohl in der Struktur, der Funktionsweise und Ordnung, aber auch der Gestaltung der verschiedenen Habitate, den Lebensräumen dieser Gemeinschaften, widerspiegelt – jenen bereits zu Anfang genannten Sinnbildern, denen mit Bezug auf die Menschen noch der urbane Raum hinzuzufügen ist. Das Urbane meint durch Dichte, eine bestimmte Lebenskultur und sozialräumliche Strukturen charakterisierte Lebensräume; Orte in und außerhalb der Metropolen, in denen ein Großteil der menschlichen Bevölkerung lebt und die Fragen von Solidarität, Gemeinschaft und Austausch im Zusammenleben überhaupt erst stellen. Während wir Menschen auf der einen Seite Gesellschaft und Bestätigung suchen, fällt auf der anderen ein starker Individualisierungsdrang auf, der mit dem Streben nach Sicherheit, persönlichem Erfolg, einer Einschätzbarkeit von Möglichkeiten zusammenhängt und das Verfolgen gemeinsame Grundziele, denen die Vielfalt unserer Gesellschaft doch eigentlich nur als Ressource dienen kann, erschwert. Auch die weltweite Vernetzung – digital und analog – und die scheinbar immer komplexer werdenden Zusammenhänge führen an manchen Stellen zu Verwirrung anstatt zu jenem geschäftigen Treiben, das wir bei den Insekten beobachten können.

 

Ob in den zirkulären Systemen der Biologie, den soziologischen Beobachtungen zum öffentlichen Raum bei Simmel, Lefebvre, Goffman, oder politischen Theorien von Arendt zu Freiheit, Demokratie, oder dem Umgang mit Natur – den Menschen im Kosmos –, das Miteinander der Menschen untereinander und ihr Handeln im sie umgebenden Raum steht, besonders seit der Pandemie, wieder im Fokus. Zu bemerken sind Veränderungen in der Art, wie wir Zusammenleben denken, umsetzen und formen, also die konkrete Gestaltung von Räumen spontaner Begegnung, die zwischen privatem und öffentlichem, innen und außen, dem funktional und flexibel ausgerichtetem, aber auch lokalen und globalen Themen vermitteln. Die Konzeption und bauliche Umsetzung, eine ressourcenschonende Transformation von Bestandssituationen, die Neu-Verortung und Verknüpfung, aber vor allem eine soziale und kulturelle Aktivierung sind Themen des Städtebaus und der Architektur, deren Disziplin im Zusammenhang mit interdisziplinären Arbeitsweisen kürzlich von Ursula von der Leyen vorgestellten Initiative „New European Bauhaus“ neue Aufmerksamkeit bekommen hat. Als Fragestellung ist dieses Handlungsfeld, das zwischen Kreativität und strukturellen Überlegungen, der Theorie und Praxis, abstrakten Vorstellungen und dem Eröffnen von Alternativen liegt, auch Thema der diesjährig doch noch stattfindenden Architekturbiennale in Venedig. „Wie werden wir zusammenleben?“, fragt Hashim Sarkis, der Kurator und Dekan der School of Architecture and Planning am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Er bringt dabei das breite Spektrum zwischen temporär-performativen Interventionen, demokratisch-engagierten Konstellationen und nachhaltig-verdichtendem Bauen zusammen, die für unsere Zukunft relevant sind. Hier ein Versuch, die Möglichkeiten dieses Handlungsfelds exemplarisch mit aktuellen Projekten zu verknüpfen:

 

Es geht um praxisbezogene Lösungen, wie es die geplante Entwicklung des Dragonerareals in Berlin verspricht, die Partizipationsprozesse, Interessen der verschiedenen Kooperationspartner, künstlerische Begleitung und die architektonische bzw. städtebauliche Perspektive auf das historische Kasernenareal in einem offenen Prozess vereint. Es geht um Zukunftsvisionen, wie sie mit Bezug auf Frei Ottos „Denken in Modellen“ und der Design-Research Praxis von Entwurfsstudios an den Universitäten zu finden sind, oder mit Bezug zum Ort und seinen Bewohnern Schritt für Schritt realisiert werden, wie bei dem Projekt „Granby Four Streets“ für welches das interdisziplinär arbeitende Kollektiv Assemble mit dem Turner-Preis ausgezeichnet wurde. Es geht um das „Wir“, bezogen auf Inklusion, Integration, Zusammenarbeit und die Akteure, die mit Blick auf die Gemeinschaft des jeweiligen Ortes Projekte initiieren. Interessant an dieser Stelle ist das von der Kulturstiftung des Bundes geförderte Modellprojekt „Neue Auftraggeber“, bei dem Menschen, die etwas verändern wollen, von ortskundigen Mediatoren begleitet und mit Künstlern vernetzt werden, um dann über Theater, Film, Literatur oder Design, Lösungen für Probleme vorrangig ländlicher Regionen wie Schrumpfung und Leerstand, fehlende Zentralität, Arbeitslosigkeit oder mangelnde Bildungsangebote, zu entwickeln. Die Auftraggeber von Steinhöfel z. B., arbeiten mit den Autoren- und Designkollektiven Riminiprotokoll und Constructlab gegen die Veralterung an und widmen sich der Neu-Erzählung ihres Ortes. Es geht also auch um das Leben selbst, Engagement, Initiative, Ideenreichtum und Optimismus, der besonders für vom Strukturwandel betroffene Regionen, wie die vom Kohleabbau geprägte Lausitz von Bedeutung sind. Das „Startup Revier East“ vernetzt hier Innovationstreiber, Personen aus der Wissenschaft, Unternehmen und aktive Mitgestaltende und initiiert Formate wie den PitchSlam oder das StartupCamp Lausitz als Ideenwerkstatt und Zukunftsschmiede. Dass es bei den Katalysatoren dann wieder um die Verknüpfung zum Raum und die Expertise im Umgang mit ihm geht, liegt eigentlich auf der Hand.

 

Es sind Referenzen für positive Entwicklungen, Realitäts-Experimente und die Teilhabe an Transformationsprozessen, in denen Kreativität und Gestaltungswillen gebündelt wird. Kollektivität und Vielfalt ist Kooperation – eine Formel für das Kreieren von Lebensraum und Perspektiven, die auf gesellschaftlichen Werten wie der Toleranz und Solidarität aufbauen. Es geht um den gleichberechtigten Zugang zu Ressourcen, Mobilität und Bildung sowie darum, die Vernetzung über Grenzen hinweg im Sinne der Gesellschaft und einer nachhaltigen Dynamik neu zu denken. Ein spannendes Zukunftsfeld!

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 6/2021.

Riccarda Cappeller
Riccarda Cappeller ist Architekturjournalistin mit Fokus auf Projekten mit sozialem Hintergrund und neuen Nutzungsformen sowie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Leibniz-Universität Hannover.
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