Insekten in der Antike

Gleichsetzung von menschlicher und tierischer Gemeinschaft

Die komplexen Gesellschaften von Bienen, Wespen und Ameisen üben seit jeher eine große Faszination auf Menschen aus. Diese schlägt sich bis heute in zahlreichen Darstellungen in Kunst und Literatur nieder. Diese Tiere stellten früher wie heute selbstverständlich auch einen wichtigen ökonomischen Faktor dar. Man denke nur an die Bienenprodukte Honig und Wachs oder an die Wahrnehmung von Wespen und Ameisen als potenzielle Frucht- und Kornschädlinge. Doch reicht die Bedeutung dieser Tiere für die antiken Kulturen weit über diese bloße ökonomische Seite hinaus. Einflussreiche Beschreibungen und Darstellungen finden sich daher keineswegs nur in zoologischen oder landwirtschaftlichen Fachbüchern, sondern auch in poetischen und philosophischen Schriften, in Komödien, auf Vasenmalereien, Skulpturen oder Münzen. Bereits in den frühesten Werken der griechischen Literatur, den Epen Homers und Hesiods, dienen diese Insekten in Gleichnissen der Illustration und Deutung menschlichen Verhaltens und menschlicher Gefühle.

 

Trotz aller offensichtlichen Unterschiede in Körperbau und Physiologie sah man Bienen, Wespen und Ameisen insbesondere hinsichtlich ihrer Lebensform als vergleichbar mit dem Menschen an. In der „Tiergeschichte“ des Philosophen und Naturkundlers Aristoteles bilden diese Insekten zusammen mit dem Menschen und dem Kranich die Gruppe der sogenannten „zoa politika“, der sozialen oder politischen Tiere. Gemäß Aristoteles’ Definition unterscheide sich diese kleine Gruppe von anderen Tieren dadurch, dass soziale Tiere nicht bloß räumlich zusammenleben, sondern eine echte Gemeinschaft mit einem gemeinsamen Ziel bilden, zu dem alle Mitglieder durch ihre Arbeit beitragen. Diese Gleichsetzung von menschlicher und tierischer Gemeinschaft zeigt ihren Einfluss noch heute, wenn wir wie selbstverständlich von „staatenbildenden“ Insekten mit „Königinnen“ und „Arbeiterinnen“ sprechen. Die antike Metaphorik war in diesem Punkt im Übrigen noch reicher, da nicht nur menschliche (Stadt-)Staaten, sondern auch Häuser, Paläste und – speziell in römischen Quellen – auch Heereslager als Analogie für die Insektengesellschaften dienten.

 

Ein besonderes Staatsmodell verkörperten in der antiken Vorstellung die Ameisen. Bei diesen Insekten ging man gemeinhin davon aus, dass sie keine Anführer besäßen und somit „anarchische Tiere“ seien. „Anarchisch“ ist nicht mit regellos und chaotisch gleichzusetzen. Vielmehr bewunderte man ihren dem Menschen weit überlegenen Gemeinsinn, der eine Ordnung ganz ohne Herrscher ermögliche.

 

Das Bienennest wiederum betrachtete man ähnlich wie heute als Monarchie. Ein wesentlicher Unterschied zwischen antiken und modernen Vorstellungen besteht jedoch in der Zuschreibung des Geschlechts der Bienenkönigin. Obwohl bereits Aristoteles Hinweise darauf hatte, dass die Bienenkönigin die Eier legt, und man die Wespenkönigin richtigerweise für weiblich hielt, ging man in den antiken Texten mit wenigen Ausnahmen von einem Bienenkönig aus. Hierin zeigt sich deutlich, wie Vorstellungen aus der menschlichen Gesellschaft auf die Tierwelt projiziert wurden. Doch auch umgekehrt konnte die Monarchie im Bienenstaat als Rechtfertigung dieser angeblich naturgemäßen Herrschaftsform für den Menschen dienen. Der römische Philosoph Seneca empfahl gar seinem Zögling, dem späteren Kaiser Nero, den vermeintlich stachellosen Bienenkönig als Beispiel eines milden und guten Herrschers.

 

Die Unklarheit über das wahre Geschlecht der Bienenkönigin, die erst im 17. Jahrhundert endgültig beseitigt wurde, beruhte auch auf dem fehlenden Wissen über die Fortpflanzung von Bienen. Weil man nie eine Paarung beobachtet hatte und sich zudem die Dreizahl der Formen – Arbeiterinnen, Königinnen und Drohnen – nicht mit einfacher sexueller Fortpflanzung erklären konnte, nahm man vielfach eine asexuelle Fortpflanzung bei Bienen an. Diese naturkundliche Theorie beeinflusste wiederum die spätantike christliche Symbolik, sah man in der Biene doch ein ideales Vorbild für eine Jungfrau und mehr noch einen Beleg für die Möglichkeit der jungfräulichen Empfängnis. Die wechselseitige Beeinflussung von Ansichten über menschliche und tierische Welt ist also keineswegs auf den politischen Bereich beschränkt.

 

Obwohl Bienen, Wespen und Ameisen in der Antike manch ähnliche Eigenschaft wie heute zugeschrieben wurden, darunter beispielsweise Fleiß und Gemeinsinn, aber auch Reizbarkeit und Aggressivität, wirken andere antike Vorstellungen auf uns eher fremd. Durch das moderne Wissen um Fortpflanzung und Geschlecht der Bienen erscheinen sie uns wohl kaum mehr als passender Vergleich für männlich konnotierte Gruppen und Personen oder als Beleg für jungfräuliche Empfängnis in der Tierwelt.

 

Diese Beispiele zeigen, dass naturkundliche Erkenntnisse und gesellschaftliche Vorstellungen einander bedingen und gegenseitig durchdringen. Die Betrachtung kulturell geprägter Darstellungen und Beschreibungen von Insekten verrät somit nicht nur etwas über die Tiere, sondern stets auch etwas über die jeweilige Vorstellungswelt der Menschen.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 6/2021.

Dominik Berrens
Dominik Berrens ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Innsbruck.
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