Von der Fabel zur Selbstbeschreibungsformel der Gesellschaft

Soziale Insekten

Wir haben die fleißigen Ameisen bei ihrem riesigen Vorratshaufen und die faulen Grashüpfer in ihrer mexikanischen Kaschemme zurückgelassen. Um den Unterschied zwischen ihnen herauszuarbeiten, bedient sich Pixar eines ethnischen Kontextes und lädt die drastisch herausgestellten Unterschiede mit kulturellen Klischees auf. Aber damit nicht genug. Der Film nimmt zudem eine Neudeutung der Fabel vor, deren Folgen für die aus ihr zu ziehende Lehre erheblich sind. Es ist nämlich keineswegs so, dass die Grashüpfer als Bittsteller zu den Ameisen kommen. Sie erpressen die Hälfte der Vorräte als Schutzgeld. Wenn die Siesta vorbei ist, spielt der Grashüpfer, sprich: der Mexikaner, den Macho und bedroht die Hilflosen. Es ist nun nicht mehr die Ameise, die die Grille verspottet, sondern es ist Hopper der Grashüpfer, der die Ameisen zynisch fragt, was sie denn den ganzen Sommer über getrieben haben: „Have you been playing all summer?“ Die Ameisen freilich haben den ganzen Sommer gearbeitet, während die Grashüpfer gesungen und gespielt haben, doch haben sie auf ihrer Insel trotz aller Mühen nicht genügend Nahrung finden können. Was vorhanden ist, reicht gerade einmal für die Ameisen selbst. Auch diese Einbettung und Neudeutung der Fabel dient der Deutungsverknappung – an eine positive Rezeption der Grille ist gar nicht zu denken. Die suggestive Botschaft des Films lautet, dass die Grashüpfer ein für alle Mal aus dem Lebensraum der Ameisen zu vertreiben seien. Dass die Ameisenkolonie vom Sombrero-Lager der Grashopper durch einen Canyon getrennt ist, erinnert kaum zufällig an die Topografie der mexikanisch-amerikanischen Grenze bei San Diego. „A Bug’s Life“ erweist sich hier als Beispiel für eine an ethnischen und kulturellen Stereotypen entlang konstruierten Zuspitzung, die die Transformation der Fabel in das Medium der Audiovision dazu nutzt, keinen Zweifel an der Botschaft der Fabel aufkommen zu lassen. Die Grenze nach Mexiko für Grillen unüberwindbar zu machen, ist die latente Botschaft der Kinderfilms.

 

Es sind Naturwissenschaftler, die sich über die Ameise der Fabeln mokieren und neue Erkenntnisse für die Ameisen als soziale Insekten in Feld führen. In einer 1787 veröffentlichen Naturgeschichte ist zu lesen, den Winter verbringe die Ameise in einer Art Starre. Sie bewege sich nicht und nehme in dieser Zeit auch keine Nahrung zu sich. Ihre sprichwörtliche Klugheit beschränke sich darauf, sich in ihrem Unterschlupf in einen depravierten Zustand zu versetzen. Ihre fabelhaften Vorräte, lesen wir 1778 bei einem anderen Forscher, seien für die Ameise vollkommen unnötig, denn jene Jahreszeit, in der die Natur ihr nichts zum Sammeln bietet, verbringe sie in Erstarrung.

 

Vom Lob der Ameisen sieht die Entomologie allerdings keinesfalls ab, es wird vielmehr um 1800 zu einem Topos der Insektenkunde. Vorbildlich ist allerdings nicht mehr das Sammeln für den Winter, sondern ihre Sozialform. Bewundert wird nicht die fleißige Ameise, sondern die Ameisengesellschaft. 1830 repräsentiert die Ameise für den Baron Cuvier eine bewundernswerte Gattung, die in einem geradezu perfekten Zustand der Gesellschaft lebe. Seine Beschreibung einer Ameisenkolonie mit all ihren mehrstöckigen Wohn- und Vorratsgebäuden, Verkehrswegen und Toren, mit einer Vielzahl von Bautrupps und Spähern, Transport- und Sicherungsmannschaften erinnert an eine moderne Großstadt, die von ihr aber besser organisiert wird als Paris von den Franzosen.

 

Die Insektenkunde begnügt sich aber nicht mit der Erforschung der Spezies, vielmehr werden nun die sozialen Tugenden der Ameise und die effiziente Organisation ihrer Gesellschaft zum Vorbild erklärt. Auf die getreue entomologische Beobachtung der Ameisen stützen sich nun die für die menschliche Gesellschaft zu ziehenden Lehren. Es geht nicht mehr um Tugenden und Laster von Individuen, sondern um die Gesellschaft als soziales System. Wir alle, Ameisen und Menschen, lesen wir in Morton Wheelers Standardwerk „Social Insect“ von 1928, leben in einem „sozialen Medium“, das den gleichen, einfachen Grundgesetzen unterworfen sei. Daher würden Soziologen und Entomologen auf zahlreiche Parallelen zwischen Ameisen und Menschen stoßen. Die Insektenforschung hat die Analogie zwischen Ameisengesellschaft und menschlicher Gesellschaft so erfolgreich ausgebaut, dass der Stand der entomologischen Forschung unmittelbaren Einfluß auf die kulturellen Selbstbeschreibungen der Gesellschaft gewinnt.

 

„Man kann mit Ameisen nicht fertigwerden, weil sie ein […] Rhizom bilden, das sich auch dann wieder bildet, wenn sein größter Teil zerstört ist“, schreiben auch Deleuze und Guattari bewundernd, und während die Kybernetiker und Arbeitswissenschaftler diese Robustheit der Ameisen überall zu implementieren suchen, lassen sich Michael Hardt und Antonio Negri vom Rhizomatischen ihrer Organisation beeindrucken. Die Autoren nutzen die neueste biokybernetische und soziobiologische Ameisenforschung, um von den sogenannten „Swarm Raids“ der Ameisen über die computergestützte Simulation dieses Schwarmverhaltens durch Algorithmen schließlich zu ihrem Transfer des Bildes auf die menschliche Gesellschaft zu kommen. Die Ameise der Schwarmforschung wird zum Vorbild einer „kollektiven Intelligenz“, eine Multitude, die „aus der Kommunikation und Kooperation einer solchen […] Vielfalt entstehen kann.“

 

Auf dieses Bild der Ameise, deren rhizomatische Organisation das 600 Millionen Jahre alte Volk so „amazingly successful“ – nach Bert Hölldobler und Edward O. Wilson – gemacht habe, berufen sich auch Bestseller der Beratungsliteratur, die in der Ameisengesellschaft ein Muster für die dezentrale, distribuierte, laterale, flexible und robuste Organisation der New Economy entdeckt haben. „Die Ameisen haben uns gezeigt“, so heißt es wörtlich bei Kevin Kelly, wie die globale Netzwirtschaft erfolgreich zu organisieren sei. Auch von Entomologen wird die fabelhafte Analogisierung von Ameise und Mensch immer wieder erneuert, um aus der Verhaltensbiologie politische Lehren zu ziehen. Inspiriert von der effizienten wie robusten Arbeitsorganisation der Ameise, schreiben die Spitzenameisenforscher Bert Hölldobler und Edward Wilson 1994, man müsse die Welt aus der Ameisen-Perspektive wahrnehmen, dann werde alles ganz offensichtlich. Wenn „wir“ so werden wie die Ameisen, „simple agents“ nämlich, die sich der Schwarmintelligenz fügen, dann werde alles besser, von der Logistik bis zur schonenden Ressourcennutzung, von der Wahl des Wohnorts bis zur Forschung in Teams. Die Algorithmen, geboren aus Forschungen zur „Ant Colony-Optimization“, werden uns führen.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 6/2021.

Niels Werber
Niels Werber ist Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Siegen, Dekan der Philosophischen Fakultät und Prodekan für Forschung.
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