Von der Fabel zur Selbstbeschreibungsformel der Gesellschaft

Soziale Insekten

„Was man von den Ameisen lernen kann“, heißt eine Fabel in den „Hundert kleine moralische Erzählungen für gute Kinder“ aus dem Jahre 1863, die vom Aufstieg eines Kindes „armer und geringer Leute“ zu höchsten Würden durch nimmermüden Fleiß und Beharrlichkeit erzählt. Die Ameise, die den Ruf, besonders arbeitsam zu sein, aus biblischen Zeiten bewahrt hat, wird als „erste und einzige Lehrerin“ gepriesen.

 

Brand Eins ist kein Kinderbuch, sondern ein Wirtschaftsmagazin, doch erscheint auch hier ein Text mit der Überschrift: Von den Ameisen lernen. Ein Unternehmensberater preist die Ameise und schlägt den Managern ausdrücklich vor, „sich ein Beispiel am Tierreich zu nehmen“. Und ein Beitrag der FAZ über Altersvorsorge titelt „Prinzip Grille oder Ameise“. Die Grille, „die im Sommer munter musiziert und an den Winter nicht denkt“, diese Grille stehe für den sogenannten „Generationenvertrag“, die Ameise dagegen, „die im Sommer für den Winter vorsorgt“, die Ameise veranschauliche das Prinzip der „Eigenvorsorge“ durch kapitalgedeckte Systeme. Nicht die munter musizierende Grille, sondern die selbst vorsorgende Ameise wird als Vorbild empfohlen. Letzter Fall: Im Anlegermagazin einer Schweizer Privatbank wird das „Problem“ der Ameisen diskutiert, dass „sich im Wissen um das Vorhandensein großer Vorräte die Grillenbestände vermehren und Grillen von weither angesogen werden“. Darin, so erläutern die Privatbankiers Linth, Wegelin & Co., bestehe der „Moral Hazard“ des Wohlfahrtsstaats. Die Empfehlung an die Ameisen, die eigenen Vorräte der Kenntnis der rücklagenlosen Grillen zu entziehen, wird nicht explizit ausgesprochen, aber doch wohl auch so verstanden. Es genügt nicht, Eigenvorsorge zu betreiben, man muss sein Kapital auch vor der Umverteilung schützen. Die Fabel wird auch in der Corona-Pandemie gerne zitiert, etwa von Gerhard Polt. Wie die SZ berichtet, war Polt „zum Thema Systemrelevanz die Fabel von der Ameise und der Grille eingefallen: Die Ameise schafft den ganzen Sommer, die Grille zirpt immer nur. ›Und Zirpen hat natürlich keine große Relevanz.‹“, so Polt ironisch. Die musizierenden Grillen seien also doch „systemrelevant“.

 

Die Beispiele wären beliebig zu vermehren, sollten aber genügen, um die rhetorische Indienstnahme eines Insekts zu belegen, dessen literarische Laufbahn in den äsopischen Fabeln der Antike begonnen hat und dessen Popularität über die Jahrtausende hindurch nichts eingebüßt hat. Von der Ameise berichtet der Autor der alttestamentarischen Sprüche Salomos, der Mensch solle „ihr Tun sehen und von ihr lernen“. Die Ameise zähle zu den „Kleinsten auf Erden“, und doch sei ihr Volk „klüger als die Weisen“. Für die „politische Zoologie“, Joseph Vogl, ist die Ameise besonders interessant, weil sie bereits in der Antike oft deshalb bewundert wird, weil sie „keinen Herrscher, keinen Aufseher oder Vorgesetzen“ hat. Dies darf bis ins 18. und 19. Jahrhundert als Ausnahme gelten: tugendhafte Individuen, eine vorbildliche Gemeinschaft – und das ohne Hierarchie, ohne Stände, ohne Führungsfigur an der Spitze. Diese Form der Gemeinschaft fasziniert noch heute, und die Ameisengesellschaft wird zur Blaupause von schwarmintelligenter, verteilter sozialer Selbstorganisation ohne Zentrum und ohne Spitze.

 

Die Ameise der antiken Fabeln, Parabeln und Gleichnisse ist auch heute noch geradezu allgegenwärtig – und sie ermöglicht dabei sehr unterschiedliche, ja gegensätzliche Deutungen. In jedem Fall geht es aber darum, mit der Hilfe der Fabel erstens eine Situation dezisionistisch zuzuspitzen: entweder Grille oder Ameise, zweitens eine ganz bestimmte Entscheidung der Situation nahezulegen und drittens andere Optionen der Beschreibung und Entscheidung auszublenden. Die Geschichten von der Grille und der Ameise gehen von einer konkreten Situation des Rezipienten aus, die ihn vor die Wahl stellt: entweder Riester-Rente und Geldanlage in der Schweiz oder nicht? Das suggestive Angebot, mit der Ameise zu sympathisieren und sich vor der Grille zu hüten, legt die Entscheidung jeweils so nahe, dass man von einem Ausblenden von Alternativen oder einer Invisibilisierung von Kontingenz sprechen könnte. Dies schließt nicht aus, dass andere Erzählungen der Fabel – wie beispielsweise Toni Morrisons Comic Who‘s Got Game? The Ant or the Grass­hopper“ – die Grille als liebenswerten Lebenskünstler in Szene setzen und die Ameise als geizigen Egoisten zeichnen, der zwar im Sommer gerne Musik hört, aber von seinem hart erarbeiteten Einkommen den Künstler – von hier kommt Polt zur Kunst in den Zeiten der Corona-Pandemie – nicht unterhalten will. Aber ob nun die Ameise mithilfe der Grille als Vorbild oder als Warnung hingestellt wird – in jedem Fall wird die mögliche Kommunikation über ein Thema erst auf eine einfache Alternative beschränkt und dann so moralisiert, dass nur eine von beiden Seiten als akzeptable Option gilt. Die Fabel stellt „Alternativlosigkeit“ her. Die Fabel veranschaulicht und vereinfacht eine Situation, gibt eine Empfehlung und sorgt zugleich, mit einem Begriff Niklas Luhmanns, für ihre „alternativenlose Evidenz“: Die Wahl der Ameise, deren Voraussicht, Organisationstalent, Disziplin und Fleiß seit Jahrtausenden gelobt wird, ist die richtige Wahl. Man kann ihr blind folgen. Als Handlungsalternative wird die Grille in der Fabel eigens deshalb angeführt, um mit ihrer törichten Wahl etwaige andere Optionen auszublenden.

 

Dies lässt sich nicht nur in der Literatur oder in den Massenmedien beobachten, sondern etwa auch im Film. Der Animationsfilm „A Bug’s Life“, Pixar 1998, spielte 1999 in einem halben Jahr eine halbe Milliarde Euro ein. Millionen haben den Film gesehen. Der Film zeigt zunächst die gesamte Ameisenkolonie beim Sammeln von Lebensmitteln. Mit Teamgeist und Fleiß gelingt es, einen großen Vorrat anzulegen. Der Herbst zieht ein, und die Grashüpfer treten auf. Sie haben den Sommer über keine Vorräte gesammelt, sondern in einer mexikanischen Bar getrunken und „La Cucaracha“ gesungen, das mexikanische Lied der Müßiggänger. Die Taverne der Grashoppers besteht aus einem schattenspendenden Sombrero, dem stereotypen Symbol des Mexikaners, der Siesta hält, statt zu arbeiten. Fleißig sammelnde Ameisen, sorglos singende Grashüpfer. Diese kurze Exposition genügt, um die ehrwürdige Vorlage zu erkennen, die „A Bug’s Life“ aufgreift.

Wir haben die fleißigen Ameisen bei ihrem riesigen Vorratshaufen und die faulen Grashüpfer in ihrer mexikanischen Kaschemme zurückgelassen. Um den Unterschied zwischen ihnen herauszuarbeiten, bedient sich Pixar eines ethnischen Kontextes und lädt die drastisch herausgestellten Unterschiede mit kulturellen Klischees auf. Aber damit nicht genug. Der Film nimmt zudem eine Neudeutung der Fabel vor, deren Folgen für die aus ihr zu ziehende Lehre erheblich sind. Es ist nämlich keineswegs so, dass die Grashüpfer als Bittsteller zu den Ameisen kommen. Sie erpressen die Hälfte der Vorräte als Schutzgeld. Wenn die Siesta vorbei ist, spielt der Grashüpfer, sprich: der Mexikaner, den Macho und bedroht die Hilflosen. Es ist nun nicht mehr die Ameise, die die Grille verspottet, sondern es ist Hopper der Grashüpfer, der die Ameisen zynisch fragt, was sie denn den ganzen Sommer über getrieben haben: „Have you been playing all summer?“ Die Ameisen freilich haben den ganzen Sommer gearbeitet, während die Grashüpfer gesungen und gespielt haben, doch haben sie auf ihrer Insel trotz aller Mühen nicht genügend Nahrung finden können. Was vorhanden ist, reicht gerade einmal für die Ameisen selbst. Auch diese Einbettung und Neudeutung der Fabel dient der Deutungsverknappung – an eine positive Rezeption der Grille ist gar nicht zu denken. Die suggestive Botschaft des Films lautet, dass die Grashüpfer ein für alle Mal aus dem Lebensraum der Ameisen zu vertreiben seien. Dass die Ameisenkolonie vom Sombrero-Lager der Grashopper durch einen Canyon getrennt ist, erinnert kaum zufällig an die Topografie der mexikanisch-amerikanischen Grenze bei San Diego. „A Bug’s Life“ erweist sich hier als Beispiel für eine an ethnischen und kulturellen Stereotypen entlang konstruierten Zuspitzung, die die Transformation der Fabel in das Medium der Audiovision dazu nutzt, keinen Zweifel an der Botschaft der Fabel aufkommen zu lassen. Die Grenze nach Mexiko für Grillen unüberwindbar zu machen, ist die latente Botschaft der Kinderfilms.

 

Es sind Naturwissenschaftler, die sich über die Ameise der Fabeln mokieren und neue Erkenntnisse für die Ameisen als soziale Insekten in Feld führen. In einer 1787 veröffentlichen Naturgeschichte ist zu lesen, den Winter verbringe die Ameise in einer Art Starre. Sie bewege sich nicht und nehme in dieser Zeit auch keine Nahrung zu sich. Ihre sprichwörtliche Klugheit beschränke sich darauf, sich in ihrem Unterschlupf in einen depravierten Zustand zu versetzen. Ihre fabelhaften Vorräte, lesen wir 1778 bei einem anderen Forscher, seien für die Ameise vollkommen unnötig, denn jene Jahreszeit, in der die Natur ihr nichts zum Sammeln bietet, verbringe sie in Erstarrung.

 

Vom Lob der Ameisen sieht die Entomologie allerdings keinesfalls ab, es wird vielmehr um 1800 zu einem Topos der Insektenkunde. Vorbildlich ist allerdings nicht mehr das Sammeln für den Winter, sondern ihre Sozialform. Bewundert wird nicht die fleißige Ameise, sondern die Ameisengesellschaft. 1830 repräsentiert die Ameise für den Baron Cuvier eine bewundernswerte Gattung, die in einem geradezu perfekten Zustand der Gesellschaft lebe. Seine Beschreibung einer Ameisenkolonie mit all ihren mehrstöckigen Wohn- und Vorratsgebäuden, Verkehrswegen und Toren, mit einer Vielzahl von Bautrupps und Spähern, Transport- und Sicherungsmannschaften erinnert an eine moderne Großstadt, die von ihr aber besser organisiert wird als Paris von den Franzosen.

 

Die Insektenkunde begnügt sich aber nicht mit der Erforschung der Spezies, vielmehr werden nun die sozialen Tugenden der Ameise und die effiziente Organisation ihrer Gesellschaft zum Vorbild erklärt. Auf die getreue entomologische Beobachtung der Ameisen stützen sich nun die für die menschliche Gesellschaft zu ziehenden Lehren. Es geht nicht mehr um Tugenden und Laster von Individuen, sondern um die Gesellschaft als soziales System. Wir alle, Ameisen und Menschen, lesen wir in Morton Wheelers Standardwerk „Social Insect“ von 1928, leben in einem „sozialen Medium“, das den gleichen, einfachen Grundgesetzen unterworfen sei. Daher würden Soziologen und Entomologen auf zahlreiche Parallelen zwischen Ameisen und Menschen stoßen. Die Insektenforschung hat die Analogie zwischen Ameisengesellschaft und menschlicher Gesellschaft so erfolgreich ausgebaut, dass der Stand der entomologischen Forschung unmittelbaren Einfluß auf die kulturellen Selbstbeschreibungen der Gesellschaft gewinnt.

 

„Man kann mit Ameisen nicht fertigwerden, weil sie ein […] Rhizom bilden, das sich auch dann wieder bildet, wenn sein größter Teil zerstört ist“, schreiben auch Deleuze und Guattari bewundernd, und während die Kybernetiker und Arbeitswissenschaftler diese Robustheit der Ameisen überall zu implementieren suchen, lassen sich Michael Hardt und Antonio Negri vom Rhizomatischen ihrer Organisation beeindrucken. Die Autoren nutzen die neueste biokybernetische und soziobiologische Ameisenforschung, um von den sogenannten „Swarm Raids“ der Ameisen über die computergestützte Simulation dieses Schwarmverhaltens durch Algorithmen schließlich zu ihrem Transfer des Bildes auf die menschliche Gesellschaft zu kommen. Die Ameise der Schwarmforschung wird zum Vorbild einer „kollektiven Intelligenz“, eine Multitude, die „aus der Kommunikation und Kooperation einer solchen […] Vielfalt entstehen kann.“

 

Auf dieses Bild der Ameise, deren rhizomatische Organisation das 600 Millionen Jahre alte Volk so „amazingly successful“ – nach Bert Hölldobler und Edward O. Wilson – gemacht habe, berufen sich auch Bestseller der Beratungsliteratur, die in der Ameisengesellschaft ein Muster für die dezentrale, distribuierte, laterale, flexible und robuste Organisation der New Economy entdeckt haben. „Die Ameisen haben uns gezeigt“, so heißt es wörtlich bei Kevin Kelly, wie die globale Netzwirtschaft erfolgreich zu organisieren sei. Auch von Entomologen wird die fabelhafte Analogisierung von Ameise und Mensch immer wieder erneuert, um aus der Verhaltensbiologie politische Lehren zu ziehen. Inspiriert von der effizienten wie robusten Arbeitsorganisation der Ameise, schreiben die Spitzenameisenforscher Bert Hölldobler und Edward Wilson 1994, man müsse die Welt aus der Ameisen-Perspektive wahrnehmen, dann werde alles ganz offensichtlich. Wenn „wir“ so werden wie die Ameisen, „simple agents“ nämlich, die sich der Schwarmintelligenz fügen, dann werde alles besser, von der Logistik bis zur schonenden Ressourcennutzung, von der Wahl des Wohnorts bis zur Forschung in Teams. Die Algorithmen, geboren aus Forschungen zur „Ant Colony-Optimization“, werden uns führen.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 6/2021.

Niels Werber
Niels Werber ist Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Siegen, Dekan der Philosophischen Fakultät und Prodekan für Forschung.
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