Ludwig Greven spricht mit dem Pionier der Bionik darüber, was Ingenieure und Techniker von Insekten, Vögeln und Pflanzen lernen können. Und was der Klimawandel für die Spezies Mensch bedeutet
Ludwig Greven: Wie kamen Sie als Zoologe auf die Idee, von der Natur Lösungen für technische Probleme abzugucken?
Werner Nachtigall: Es war wohl mein Interesse schon als Kind für Autos und fürs Fliegen.
Als Laie denkt man, dass Natur und Technik ein Gegensatz sind.
Die Natur besteht wie die Technik aus Einzelelementen, die zusammenspielen. Das können physikalische oder chemische Elemente sein, aber immer bilden sie ein Großes und Ganzes. Interessant sind die Querbeziehungen zwischen diesen Elementen. Schauen Sie sich ein Auto an. Da gibt es die Einspritzpumpe, den Motor, die Reifen, aber insgesamt ist es etwas, das fahren kann. Die Einzelteile interessieren Nichtspezialisten nicht so sehr.
Aktuell ist nicht mehr angesagt, Auto zu fahren und zu fliegen, um das Klima zu retten. Andererseits ist es ein uralter Menschheitstraum, es den Vögeln gleichzutun. Schon Leonardo da Vinci hat Flugapparate entworfen, die ihre Bewegungen nachahmten.
Leonardo hatte ungeheure Einfälle, aber ohne physikalische Basis. Er kannte ihre Gesetze noch nicht und hat mit viel zu kleinen Energien gerechnet. Deshalb konnten seine Flugmaschinen nicht funktionieren. Seine Idee eines Hubschraubers war dagegen sehr gut. Vor 50 Jahren hat man in der Biologie gesagt, eine Fliege ist ein kleiner Flugapparat. Heute weiß man sehr genau, dass Bienen z. B. nur den Bruchteil eines Milligramms Pollen brauchen, um schnell zu fliegen.
Ein Vorbild für umwelt- und klimaschonendes Fliegen?
Ja, aber nur in der Größenordnung von Insekten.
Hat die Natur durch die Evolution im Lauf von Millionen Jahren Antworten für spezielle Anwendungen entwickelt, auf die Menschen trotz allen Erfindergeistes nicht kommen?
Das ist wahrscheinlich nicht ganz falsch. Die Natur entwickelt diese Dinge jedoch nicht für den Menschen, sondern für sich selbst. Der Mensch sieht sie sich dann an und interpretiert sie mit seinem technischen Verstand. Denken Sie an den Druckknopf oder den Reißverschluss. Beides ist der Natur abgeschaut wie der Klettverschluss. Oder der Oberflächeneffekt der Lotuspflanze. Warum hat die Natur ihre Blätter so ausgestattet, dass sie immer rein bleiben? Nicht, damit der Mensch nicht mehr Fenster putzen muss, sondern dass keine Pilzsporen auf den Blättern haften und sie zerstören.
Was sind sonst praktische Anwendungen der Bionik?
Es sind ungefähr 3.000 bekannt. Entweder sind Menschen durch Zufall darauf gekommen, weil sie sich ein Tier oder eine Pflanze genauer angeschaut und gefragt haben: Ich habe ein Problem, hat die Natur das gelöst? Die andere Möglichkeit ist, sich die Natur insgesamt genauer anzuschauen und dabei Zusammenhänge und Lösungen zu entdecken. Das Dritte ist das Wichtigste, die Abstraktion, Grundprinzipien zu analysieren. Wie entsteht Auftrieb? Wie muss der Insektenflügel bewegt werden, damit er möglichst wenig Luftwiderstand leistet? So etwas wird sehr häufig übertragen.
Also haben auch Tiere unterschiedliche Techniken für verschiedene Anwendungen?
Die Natur begnügt sich nie mit nur einem Beispiel. Sie will immer variieren und die Grenzen ausloten.
Was kann man, abgesehen vom Fliegen, speziell von Insekten lernen?
Da findet man erstaunliche Übereinstimmungen mit der Technik. Eine Wanzenart hat z. B. eine Hochdruckdüse eingebaut, die einen beachtlichen Druck erzeugt. Ein Käfer mischt zwei chemische Substanzen und schießt das explodierende Gemisch als Verteidigungsstrahl heraus. Es gibt Schmetterlinge, die ihren Rüssel, der länger ist als sie selbst, während des Fliegens so verstauen, dass er keinen Luftwiderstand leistet. Käfer verstecken ihre Flügel unter Flügeldeckeln. Die Flügel müssen dafür gefaltet werden zu kleinen Paketen. Die Japaner sind Weltmeister im Falten von Papier. Ein Professor dort hat der Natur feine Strukturen abgeschaut, die Sonnensegel im Weltall entfalten.
Insekten haben auch für hochkomplexe Probleme Lösungen gefunden. Bienen und Ameisen bilden arbeitsteilige, hierarchische Staaten. Lässt sich auch davon lernen?
Ja. Ein Ingenieurteam hat im südlichen Afrika ein Bürohochhaus gebaut und überlegt, dass die elektrische Kühlung viel zu teuer wäre. Dann sind sie darauf gekommen, wie die Termiten das lösen. Die haben in ihren Bauten ein Röhrensystem, das automatisch Druckdifferenzen erzeugt, sodass die Luft in bestimmte Richtungen strömt. Das hat man übertragen und hat Zwischendecken eingezogen, die sich in der Nacht mit Kaltluft füllen, wie das die Termiten machen. In der Früh wird die Kaltluft mit geringer Energie in die Büros geleitet, wo sie zirkuliert. Der Ausgangspunkt ist Bionik, aber am Ende steht immer Ingenieurkunst nach dem aktuellen Stand der Technik.