Insekten und Kultur

Der Einfluss von Insekten beschäftigt alle Kulturen

Das seit einigen Jahren nun auch amtlich anerkannte Insektensterben sollte jedem deutlich gemacht haben, dass menschliches Leben ohne Insekten kaum möglich ist. Ihr positiver und ihr negativer Einfluss beschäftigten alle Kulturen seit den frühesten Quellen bis heute. Man denke an solche Stichwörter wie Heuschreckenplagen in der Bibel, Vorratsschädlinge im alten Rom, Pflanzenschädlinge bis heute, Krankheitserreger und Überträger zur Zeit der Pestepidemien und heute mit anderen Erregern und Überträgern infolge des Klimawandels. Andererseits die Honigernte schon in der Steinzeit, das biblische Manna, die Bestäubung vieler Nutzpflanzen, die Aufbereitung des Bodens und die Stabilität von Ökosystemen.

 

Natürlich haben Künstlerinnen und Künstler seit Langem auf diese Vielfalt unmittelbarer Beziehungen reagiert. Das Spektrum reicht von göttlicher Verehrung und deren Darstellung bis zum Vorbild für alle Richtungen der Bildenden Kunst. Form, Farbe und Lebensweise der Insekten sind so unendlich reichhaltig, dass viele wache Geister gar nicht anders konnten, als dies alles zu reflektieren.

 

Die künstlerische Auseinandersetzung beispielsweise mit dem Käfer hat ihre Wurzeln zum Teil in alten kultischen Vorstellungen. Man denke an den Scarabaeus, an Tänze und Gesänge, deren Inhalt mit Käfern zu tun hat, oder an die zahlreichen Vorstellungen über Voraussagen von Glück und Unglück, Reichtum und Armut, die in den meisten Kulturen sehr weit verbreitet sind und in denen viele auffällige Käferarten Bedeutung erlangen.

 

Dichter haben Insekten besungen, Musiker ihr Wirken vertont. Maler, fasziniert von der Schönheit, verwendeten alle Techniken zu ihrer Darstellung, und es fehlt nicht an Insektenplastiken. Auch noch andere Kunstrichtungen und das Kunsthandwerk bedienten sich verschiedener Arten als Vorbild, so unter anderem die Gemmenschnitzerei, die Münzprägung, der Briefmarkendruck, die Porzellanmalerei und -formung und natürlich die Fotografie, vom Sachbild bis zum künstlerischen Foto. Insekten waren und sind Vorbilder und Bestandteil für unterschiedlichsten Schmuck, nicht zuletzt spielen sie eine große Rolle in der Werbung.

 

So wie wir die Spuren von Insekten über 2.000 Jahre in der Literatur zurückverfolgen können, mögen sie auch noch mindestens weitere 2.000 Jahre ihre Spuren darin hinterlassen, aber nicht in der paläozoologischen Literatur! Aesop, Homer, Ovid, Achim von Arnim, Honoré de Balzac, Clemens Brentano, Wilhelm Busch, Charles Dickens, Bruno Frank, Johann Wolfgang Goethe, Hermann Hesse, Franz Kafka, Paul Keller, Friedrich Gottlieb Klopstock, Martin Luther, Alfred de Musset, Modest Mussorgski, Wilhelm Raabe, Joachim Ringelnatz, George Sand, Theodor Storm und Josef Viktor Widmann sollen einige Beispiele sein. Die meisten Dichtungen scheinen den Leuchtkäfern gewidmet zu sein. Ein zweiter oft bedichteter Käfer ist der Maikäfer, aber auch Schmetterlinge sind häufig behandelte Insekten und natürlich die Honigbiene sowie die Seidenraupe, die ihr eigenes Schrifttum haben.

 

Seit der ägyptischen Hochkultur hat der Scarabaeus viele Völker, vor allem im Mittelmeerraum, beschäftigt. Diese Käfer galten schon vor mehr als 5.000 Jahren im Alten Ägypten als Sinnbild des Sonnen- und Schöpfergottes Re. Man nimmt an, dass die Mistkugel mit der Sonne verglichen wurde, die von den Skarabäen entlanggerollt wird, so wie Re täglich die Sonne lenkt. Auch das Vergraben der Mistkugel im Sande und das Wiederhervorholen wurde symbolisch mit dem Auf- und Untergehen der Sonne in Verbindung gebracht. Eine zweite Ursache für den Vergleich des Scarabaeus mit dem Sonnengott war der Glaube, dass die Pillendreher ausschließlich Männchen seien, die für sich allein zeugend Junge hervorbringen können. Nach den Vorstellungen der alten Ägypter ging auch der Sonnengott nicht aus der Verbindung zweier verschiedengeschlechtlicher Wesen hervor, sondern wurde ohne vorhergehende Befruchtung aus einem Urstoff geboren. Die gestaltliche Verwandlung des Käfers wird als gedanklicher Hintergrund der religiösen Mumifizierung gesehen. Man will glauben, die Mumien wären in der Hoffnung hergestellt worden, dass sie nach tausendjährigem „Puppenschlaf“ eine dritte Verwandlung und Auferstehung erleben werden. Die unterirdischen Totenstätten und die Pyramiden werden mit den Brutpillen verglichen. So umstritten diese Deutung auch ist, ein Symbol für die Wiedergeburt nach dem Tode war der Scarabaeus zweifellos.

 

Insekten haben zu allen Zeiten in bestimmten Gebieten der Erde als Nahrung für den Menschen eine Rolle gespielt. Analysen zeigen, dass das Insekteneiweiß eine für den Menschen sehr wertvolle Zusammensetzung hat. Große Insekten waren und sind deshalb mancherorts eine wichtige Nahrungsquelle. Seit einigen Jahren erlangt die wirtschaftliche Nutzung von Insekten als menschliche Nahrung, Tiernahrung, zur Gewinnung von Ölen und Proteinen, biologisch aktiven Substanzen (Enzyme) sowie in der Abfallwirtschaft in Europa zunehmend an Bedeutung. Man besinnt sich auf die ungeheure Vermehrungskraft einiger Arten, und die Industrie zeigt Interesse an diesen in Europa bisher kaum genutzten Ressourcen. Bezüglich der Tiernahrung erhofft man sich eine Schließung der Eiweißlücke bei der Produktion von Bio-Geflügel und einen Ersatz von Soja- und Fischmehl durch Insektenmehl sowie eine Fischfutterproduktion auf der Grundlage von organischem Abfall.

Ausgehend von der Verwendung als Nahrung und einer kultischen Verehrung wurden zahlreichen Insekten verschiedenste Heilwirkungen zugeschrieben. Diese „Heilwirkungen“ können ohne jede materielle Grundlage, die erzielten „Erfolge“ vielmehr psychisch bedingt sein oder völlig andere Ursachen haben. Andererseits ist tatsächlich eine Wirkung möglich, die auf bestimmten Inhaltsstoffen beruht. So hat z. B. das Pederin – eine in einem Raubkäfer vorhandene Substanz – die Eigenschaft, das Wachstum von bestimmten Tumorzellen zu hemmen. Dies ist ein weiteres Beispiel für die Wichtigkeit der Erhaltung der Artenvielfalt, auch aus ganz egoistischen Motiven. Mit jeder Tier- und Pflanzenart, die verschwindet, sind auch mögliche Naturstoffe weg, deren Kenntnis wohl erst der Zukunft vorbehalten wäre.

 

Es gibt eine Fülle von bildlichen Insektendarstellungen; verschiedene Arten sind einziger Inhalt oder Element von Kunstwerken. Man denke an „Maria mit den vielen Tieren“ von 1503 und „Anbetung der Heiligen drei Könige“ von 1504 von Albrecht Dürer. Die berühmte Einzeldarstellung eines Hirschkäfers aus dem Jahre 1505 ist allgemein bekannt. Bei Wilhelm Busch wimmelt es von Insektendarstellungen. In „Hänschen Däumling“ kommen viele vor. Auch die Bildergeschichtensammlung „Schnurrdiburr oder die Bienen“ enthält entsprechende Zeichnungen. Im alten China waren die Leuchtkäfer Sinnbild der Schönheit. Man findet sowohl in China wie auch in der Kunst Japans Leuchtkäfer oft als Gegenstände von Holzschnitten oder als Motive farbiger Bilder auf Seide.

 

Darstellungen von Insekten sind aber viel älter. In Laugerie-Basse, Dordogne, fand man eine etwa 14.000 Jahre alte Marienkäferplastik aus Mammut­elfenbein, die der jungsteinzeitlichen Epoche des Magdalénien zugeordnet wird. Sie trägt auf jeder Flügeldecke drei Punkte und stellt wahrscheinlich einen Siebenpunkt-Marienkäfer dar. Offenbar war es ein Anhänger, denn die Plastik ist vorn durchbohrt und wurde sicher als Schmuck getragen. Unter den Felsmalereien der San in Südafrika fällt auch eine künstlerisch hervorragend gestaltete Gottesanbeterin auf.

 

Insekten als Motive sind in allen Richtungen der darstellenden Kunst zu finden. Unter den Wappentieren finden sich auch Insekten, z. B. Heuschrecken, Fliegen, Schmetterlinge, Käfer und die Honigbiene. Auf den berühmten Bronzetüren von Lorenzo Ghiberti am Baptisterium in Florenz sind inmitten biblischer Szenen ein Hirschkäfer und andere Insekten in Bronze gegossen. Die Kunst des Naturabgusses verwendete ebenfalls Insekten, die vor allem mit Silber übergossen und damit dauerhaft nachgebildet wurden, z. B. ein silbernes Schreibzeugkästchen des Nürnberger Goldschmiedes Wenzel Jamnitzer. Auch die Porzellankunst hat Insektenmotive verwendet. So ist ein Hirschkäfer auf einer prächtigen Porzellanplatte aus Meißner Porzellan aus der Hand von Johann Joachim Kändler zu finden. Sogar die Goldschmiedekunst hat sich bei der Herstellung von Schmuck gern von Insekten inspirieren lassen. Mit reicher Fantasie schufen Goldschmiede elegante Broschen aus Gold und Silber. Selbst in der Architektur des 20. Jahrhunderts lassen sich Darstellungen von Insekten finden, z. B. in einem Hotel bei Varese in Norditalien, wo ein Durchgang mit Säulen und Hirschkäfer-Kapitellen geschmückt ist.

 

Völlig unübersehbar dürfte die Verwendung von Marienkäfermotiven im Kunstgewerbe – im weitesten Sinne – sein. Sie reicht von Modellen für Schmuck – Ohrringe, Fingerringe, Anhänger – über Spielzeug – z. B. auf Rädern zum Ziehen –, Talismane, Amulette, Armbänder, Anstecker, Papiermuster, Briefpapier, Kinderbekleidung, Karnevalskostüme und Klebefiguren bis zur Schokoladenverpackung. Nahezu unendlich ist die Vielfalt einschlägiger Glückwunschkarten.

 

Zoologische Motive – auch Insekten – gehören in aller Welt zu den besonders beliebten Bildvorlagen von Postwertzeichen und erreichen mitunter eine hervorragende Qualität der Abbildung und werden oft künstlerisch bearbeitet. Selten ist ihre Präsenz auf Münzen.

 

Und was tun wir angesichts der Fülle an Berührungspunkten zwischen uns und den Insekten? Wenn man bedenkt, wie groß und unwiederbringlich die Verluste an der Vielfalt der Insekten bereits sind, zunehmend auch in ihrer Anzahl, so kann die Schlussfolgerung nur sein – es müssen alle Register gezogen werden, um wenigstens einen Stillstand zu erreichen. Eine Wiederherstellung der ursprünglichen Vielfalt ist im Ganzen unmöglich. Sie gelingt nur in winzigen Ausschnitten, die aber wenigstens für die Seele etwa Gutes bewirken. Und immer gilt natürlich die Feststellung, dass auch die kleinste Tat gut ist. Man wird erinnert an Marlene Dietrich und ihr Lied „Sag mir, wo die Blumen sind, wo sind sie geblieben“.

 

Die Kunst ist eine Macht, die durchaus helfen kann. Sie kann Liebe erwecken und bestärken, Verantwortung anmahnen, aufrütteln, die Ursachen für das Verschwinden beim Namen nennen und ihre Protagonisten entlarven, sie kann tadeln und loben – und sie wird gehört! Es geht bei allem schließlich um uns selbst.

 

Viele Arten sterben aus, ehe wir sie überhaupt kennen. Man meint, dass die Menschen bei zunehmender Entfernung von der Natur andererseits ein immer größer werdendes Bedürfnis nach Kontakt mit der Lebewelt entwickeln. Diese „Biophilie“ genannte Erscheinung lässt hoffen. Dennoch soll uns die folgende, vor 600 Jahren von Kamal ad-Din ad Damiri mitgeteilte Geschichte Mahnung sein, sorgfältiger mit den unwiederholbaren Schätzen der Natur umzugehen.

„Der Kalif Umaiibu-el-Khattab wurde einst sehr unruhig, weil die Heuschrecken ausblieben. Er schickte die Boten aus, nach Syrien, nach Jemen, nach Iran. Der letzte der Boten brachte einige Heuschrecken mit, worauf der Kalif mit Freude ausrief: Sie leben noch! Ich habe gehört, dass Allah 1.000 Arten Tiere schuf und dass als Erste davon die Heuschrecke aussterben wird. Sobald sie aber ausgestorben ist, werden alle anderen Tierarten folgen, so wie die Perlen von einer Kette rollen, deren Schnur zerriss.“

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 6/2021.

Bernhard Klausnitzer
Bernhard Klausnitzer ist Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für allgemeine und angewandte Entomologie.
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