Die kulturelle Welt der Insekten

Zum Verhältnis zwischen Kultur und Natur

Mein Großvater schenkte mir in meiner Kindheit einige alte Jahresbände des Kosmos, der berühmten „Handweiser für Naturfreunde“. In einem dieser Hefte aus dem Jahr 1918 fand ich den Aufsatz von Jean-Henri Fabre „Die Dolchwespe als Wundkünstler“. Wie schafft es die Wespe, ihr Opfer, eine Käferlarve, mit einem Stich zu lähmen, aber nicht zu töten? Denn nur wenn die Larve absolut bewegungsunfähig, aber nicht tot ist und deshalb nicht verwest, kann sich ihr Nachkommen von dem paralysierten Tier entwickeln. Dies ist letztlich nicht nur eine naturwissenschaftliche Frage, sondern auch eine philosophische. Ist die Larve nicht doch tot, oder lebt sie in einer Art tiefen Schlaf, der Metabolismus fast gegen null gefahren? Ist die Wespe bei ihrer Attacke auf ihr Opfer rein instinktgesteuert, oder hat sie einen eigenen Willen, kann sie lernen?

 

Wie kein anderer Entomologe vorher, klärte Jean-Henri Fabre bis dahin unklare Sachverhalte mit seinen exakten wissenschaftlichen Beschreibungen in höchster literarischer Brillanz. Der Kosmos-Verlag hatte Auszüge aus dem umfänglichen Werk von Fabre Anfang des 20. Jahrhunderts erstmals ins Deutsche übersetzen lassen, die vollständige deutsche Übersetzung des zehnbändigen Hauptwerkes des Schriftstellers „Souvenirs Entomologiques“ wurde erst in den letzten Jahren in einer wundervollen Edition bei Matthes & Seitz vorgelegt.

 

Dieser Text war für mich der Beginn einer Leidenschaft für Insekten. Sechs Beine, Chitinpanzer, deutliche Einkerbungen zwischen Kopf, Brust und Hinterleib. Deshalb wurden die Tiere früher auch Kerbtiere genannt. Eine unglaubliche Vielfalt und Schönheit. Allein in Deutschland geht man von deutlich mehr als 30.000 unterschiedlichen Arten aus, keiner weiß, wie viele es auf der Welt sind, aber es können Millionen sein.

 

Mich haben immer die Arten besonders fasziniert, die wie die Dolchwespe ein aufwendiges Instinkt-Verhalten an den Tag legen. Trotz solch herausragender Entomologen, also Insektenkundler, wie Jean-Henri Fabre, wissen wir unglaublich wenig über das Leben der Insekten selbst in unserer nahen Umgebung und noch weniger über ihr Leben in fernen Ländern.

 

Der Mensch lebt in einem intensiven Spannungsverhältnis mit den Insekten. Deshalb hat der Mensch die Insekten immer auch in seinen kulturellen Ausdrucksformen behandelt. Schon aus dem Jungpaläolithikum vor 30.000 Jahren sind Insektendarstellungen bekannt. Das ist nicht verwunderlich, denn Insekten können ein Segen, aber auch ein Fluch für uns Menschen sein. Sie können ganze Ernten vernichten und damit schlimmste Hungersnöte auslösen, sie können Krankheiten wie die Pest verbreiten und sie können aber auch selbst Nahrungsmittel sein und, wie die Honigbienen, ein begehrtes Nahrungsmittel herstellen. Und ohne die gigantischen Bestäubungsleistungen vieler Insekten würde im wahrsten Sinne des Wortes auf unseren Bäumen und in unseren Gärten nichts wachsen. Und ohne die Insekten hätten viele Tiere, wie z. B. die Vögel, keine Nahrung. Wenn es ein Symbol gibt, das zeigt, dass in unserer Welt alles mit allem zusammenhängt, dann sind das die Insekten.

Doch sind die Insekten massiv bedroht, extensive Landwirtschaft, Bodenversiegelung durch Baumaßnahmen und auch Klimaänderungen lassen den Bestand dramatisch schrumpfen. Nicht wenige werden sagen, egal, weg mit den lästigen Biestern. Doch wer einmal ein Insekt unter der Lupe angeschaut hat, wird von der Schönheit dieser Tiere in den Bann gezogen sein. Farben und Formen im Überfluss.

 

Aber man kann die Schönheit oft nicht unmittelbar sehen, denn das Sehen muss gelernt werden. Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) und der Deutsche Kulturrat haben schon vor drei Jahren gemeinsam festgestellt, dass Umwelt- und kulturelle Bildung eng miteinander verbunden sind: Die Umweltbildung mit ihrem Blick auf den verantwortlichen Umgang mit Ressourcen und die kulturelle Bildung mit ihrer Ergebnisoffenheit für neue Perspektiven und Lösungswege sind eine entscheidende Grundlage zum Verstehen, zum Sehen der Welt. Ohne kulturelle Bildung werden wir auch die Natur um uns herum nicht verstehen, nicht erkennen können. Und wir werden die für uns überlebensnotwendigen Insekten nur schützen, wenn wir auch ihre Schönheit wahrnehmen. Die Beschäftigung mit Insekten ist deshalb kein Spartenthema für Umweltschützer und Biologen, sondern ein eminent wichtiges kulturelles Thema.

 

Endlich kann ich wieder Insekten beobachten. Der lange Berliner Winter ist zu Ende. Zuerst kamen die Bienen, die Waldameisen und einige frühe Schmetterlinge wieder aus ihren Winterquartieren hervor, kurz danach auch die Wespen und Käfer. Schon nach wenigen warmen Tagen ist das Gewimmel fast unübersehbar. Man muss sich konzentrieren, man muss auswählen, um etwas erkennen zu können. Ich habe mich auf Grab-, Weg- und Goldwespen spezialisiert, beobachte und fotografiere sie. Nicht weil die anderen Insektengruppen weniger interessant wären, sondern nur um in der Fülle den Überblick einigermaßen behalten zu können. Dann aber eröffnet sich eine faszinierende Welt direkt vor der eigenen Haustüre, selbst in der Großstadt.

 

Mich beschäftigt besonders das Verhältnis zwischen Kultur und Natur bereits seit Jahrzehnten. Im Herbst 1987 veranstaltete ich in meiner damaligen Kölner Galerie eine Gruppenausstellung: „Die Welt der Insekten“. 22 junge Künstlerinnen und Künstler zeigten damals ihren künstlerischen Zugang zur Welt der Insekten. Heinrich Wolf, der Wegwespenspezialist schlechthin, sprach bei der Finissage der Ausstellung über Insekten in der Kunst, der Literatur und der Musik und warum ein Entomologe immer auch einen künstlerischen Blick braucht. Einige Insektenkundler, wie z. B. der Schweizer Goldwespenforscher Walter Linsenmaier, waren von ihren Untersuchungsobjekten so fasziniert, dass sie ihnen in ihren Habitus-Zeichnungen auch künstlerische Denkmale setzten.

 

In diesem Schwerpunkt soll die kulturelle Welt der Insekten beleuchtet werden. Nach den Schwerpunkten: „Vom Grenzstreifen zum Kulturerbe“ (6/2020), „Am Rande der Nacht“ (12/2019-1/2020), „Der Kultur-Öko-Test“ (1/2018) und „Das Anthropozän“ (3/2016) ist dieser Schwerpunkt bereits der fünfte in Politik & Kultur an der Schnittstelle von Kultur und Natur. Jetzt kann man, so glaube ich, schon von einer kleinen Serie sprechen.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 6/2021.

Olaf Zimmermann
Olaf Zimmermann ist Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates und Herausgeber und Chefredakteur von Politik & Kultur.
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